© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit
Die Pflicht zur Zuversicht
von Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Trotz aller Aufklärung und Entmythologisierung hat sich das
Böse bis heute nicht aus der Welt schaffen lassen. Man hat es im Laufe der Ideengeschichte immer wieder hinwegerklären, verbannen oder sogar vernichten wollen, doch ohne Erfolg. Im Gegenteil: Gerade in unserem Jahrhundert haben militante ideologisch-politische Bewegungen, die vorgeblich genau wußten, was das Gute oder Beste sei, eine weltgeschichtlich beispiellose Explosion des Bösen bewerkstelligt. Besonders schlagend kommt diese Dialektik in einem Zeitungsartikel zum Ausdruck, der am 18. August 1919 im „Roten Schwert", dem Amtsblatt der sowjetischen Geheimpolizei, erschienen ist: „Unsere Humanität ist absolut; denn sie gründet sich auf das glorreiche Ideal der Beseitigung von Tyrannei und Unterdrückung. Uns ist alles erlaubt. Denn wir sind die Ersten in der Welt, die das Schwert im Namen der Freiheit und der Befreiung ziehen."

Was aber ist – das Böse, das uns auch dann quälend beschäftigt, wenn wir es anders nennen, etwa „Teufel", „Menschheitsfeind" oder „Fundamentalist"? Dieser Frage stellt sich Rüdiger Safranski in seinem streckenweise brillant geschriebenen neuen Buch. Als kluger und gebildeter Mann weiß er, daß es bei philosophischen Grundproblemen tunlich ist, vorerst einmal die bereits vorliegenden Antworten und Deutungen Revue passieren zu lassen. Neben dem Tod zählt das Böse von jeher zu den „Welträtseln", mit denen sich Mythos, Religion und Philosophie herumschlagen. In siebzehn Kapiteln werden etwa dreitausend Jahre Ideengeschichte und Problemgeschichte des mit Tod, Totschlag, Frevel und Selbstverstockung verschwisterten Bösen rekapituliert. Der Bogen spannt sich von Prometheus und der Schlange im Garten Eden, von Kain und Abel, der Sintflut und den Folgen des Turmbaus zu Babel über Hiob, Sokrates, Platon, Epikur und Augustinus bis zu Kant, Hegel, Schelling und Schopenhauer. Es werden jedoch auch - gelegentlich etwas zu knapp - die Antworten neuerer, beinahe zeitgenössischer Denker wiedergegeben. Max Weber, Carl Schmitt, Arnold Gehlen, Camus, Sartre, Kafka kommen zu Wort, sehr ausgiebig auch Hitler, den E.T.A. Hoffmann und vor allem Nietzsche in manchen Hinsichten vorausgedacht haben. Hitler sei „die letzte Enthemmung der Moderne", eine „Ausgeburt des 'wissenschaftlichen' Zeitalters". Leider stützt sich Safranski des öfteren auf Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler". Daß es sich bei diesem einst vielbeachteten Buch nachweisbar um eine Fälschung handelt, wird vom Autor zu gering veranschlagt. Befremdlich ist, daß Safranski die keineswegs minder erschütternden und ebenfalls wahnhaft-ideologisch motivierten sowie methodisch-planmäßig vollstreckten Völkermorde, „Säuberungen" und Massenliquidierungen Lenins, Stalins, Mao Tse-tungs und Pol Pots nicht ebenso überzeugend zur Sprache bringt wie die Menschheitsverbrechen der nationalsozialistischen Führung. Autoren wie Nikolai Berdjajew, Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, A. Antonow-Owssejenko und andere, die sich zu dieser Thematik kompetent geäußert haben, fehlen deshalb auch im Literaturverzeichnis am Schluß des Buches.

Was den Leser erwartet, ist sozusagen ein Baedeker in die Abgründe eines Wesens, das, anders als das Tier, „Nein" zu sagen vermag, die Erfahrung des „Nichts" kennt und sich deshalb auch für den Furor der Vernichtung bis zur All-Feindschaft entscheiden kann. Zuzustimmen ist ihm, wenn er sagt, man müsse nicht den Teufel bemühen, um das Böse zu verstehen. Zu „begreifen" ist es allerdings nicht. Es gehört, wie es wohl am tiefsinnigsten Schelling dargelegt hat, zu den unaufhebbaren Möglichkeiten unserer Freiheit. Das Böse sei der Preis der menschlichen Freiheit. Was geschieht aber, wenn demnächst die Werke unserer Technik und Zivilsation sich ähnlich gegen ihre Urheber wenden, wie einst der Mensch gegen seinen Schöpfer? Kant zitierend, meint Safranski, es gebe eine Art „Pflicht zur Zuversicht": „Sie ist der kleine Lichtkegel inmitten der Dunkelheit, aus der man kommt und in die man geht. Eingedenk des Bösen, das man tun und das einem angetan werden kann, kann man immerhin versuchen, so zu handeln, als ob ein Gott oder unsere eigene Natur es gut mit uns gemeint hätten."

Dies ist das intellektuelle und moralische Ergebnis nach mehr als 300 Seiten philosophiegeschichtlichem Panorama und pluralistischem Räsonnement. Die bange Frage drängt sich auf, was ein mit mehreren Fiktionen durchlöchertes Fazit im Todeshauch des wirklichen Ernstfalls wiegen wird.

Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, Hanser Verlag, München 1997, 335 Seiten, geb., 45 Mark


 
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