© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/98 27. März 1998

 
 
150-Jahrfeier 1848: Mit der JF unterwegs im Berliner Festzug
Ein fast vergessener Tag
von Kai Guleikoff

Der 18. März 1998 in Berlin mag vom Wetter her wie vor 150 Jahren gewesen sein: naßkalt, um 5 Grad über Null und windig. Ein Gedenkzug der Bürger von Tiergarten durch Mitte zum Friedrichshain war angesagt worden. Der Aufruf "Für demokratische Tradition und revolutionären Geist" war parteiübergreifend von den drei Bezirksbürgermeistern der Stadtbezirke Tiergarten, Mitte und Friedrichshain sowie von den Fraktionsvorsitzenden des Abgeordnetenhauses von CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen unterzeichnet worden.

Im Wortlaut des Aufrufes war ein untergründiger Vorwurf bereits spürbar im Bezug auf die doch sehr bescheidene Würdigung dieses Jubiläums. Zum hundertsten Jahrestag der Revolution war in Berlin gesetzlicher Feiertag und arbeitsfrei. Im März 1948 Geborene und Einwohner Berlins über 80 Lebensjahre bekamen eine Zuwendung von 100 Reichsmark (die Einführung der Deutschen Mark fand erst im Juni 1948 statt). Der Magistrat bewilligte für die Jahrhundertfeier insgesamt 900.000 Reichsmark. "Wenn das deutsche Volk endlich die Demokratie begreifen will, dann muß es seine Helden des Friedens und der Freiheit achten lernen!" rief Otto Suhr als Begründung für diese außerordentliche Kraftanstrengung im kriegszerstörten Berlin aus. Vielleicht war es auch der letzte Versuch, die drohende Spaltung der Stadt zu verhindern; am 24. Juni 1948 begann die Blockade durch die russische Besatzungsmacht.

Der dreistündige Gedenkmarsch begann um 14 Uhr an den Zelten im Tiergarten. Dieser Ort erinnert an den 10. März 1848, als 6.000 Berliner Arbeiter und Handwerker in einer "Adresse an den König" um bürgerliche Freiheiten und soziale Verbesserungen nachsuchen. An dieser Stelle vollzieht sich auch am 13. März 1848 "die Wandlung aus dem Frieden in den Krieg" (Stadtchronik), als nach Beendigung einer der in dieser Zeit zahlreichen Zelten-Versammlungen die in erregte Stimmung versetzte Menschenmenge durch das Brandenburger Tor zum Schloß vordringen will. Da die Polizei machtlos ist, fordert der Polizeipräsident Kavallerie an. Diese schlägt mit flacher Klinge auf die Bürger ein. Es gibt zahlreiche Verletzte. Der Volkszorn ist entfacht.

 

Senat lehnt Umbenennung in "Platz des 18. März" ab

Die Ereignisse von damals auf dem heutigen "Platz vor dem Brandenburger Tor" sollen daher durch eine Platzumbenennung gewürdigt werden. Obwohl der Berliner Senat diesen Vorschlag ablehnte, wird nach 15 Uhr in einer symbolischen Handlung das Schild mit der Aufschrift "Platz des 18. März 1848" enthüllt. Der Gründer und Vorsitzende der "Initiative 18. März", Volker Schröder, begründet diesen Schritt mit den Worten: "Wir feiern eine Revolution, und da ist revolutionäres Verhalten angesagt." Die Bezirksverordnetenversammlung Mitte hatte bereits im August 1997 beschlossen, den in ihrem Zuständigkeitsbereich liegenden Platz umzubenennen. Der angrenzende Bezirk Tiergarten und der für die letzte Ruhestätte der Opfer der Märzkämpfe zuständige Bezirk Friedrichshain schlossen sich diesem Votum an.

Nach der Enthüllung der Gedenktafel am Deutschen Dom auf dem Gendarmenmarkt, wo die Aufbahrung der Märzgefallenen in einem unvollendet gebliebenen Gemälde Adolph von Menzels verewigt bleibt, erreicht der Gedenkzug den Friedrichshain gegen 17 Uhr. Ein kräftiger Regenguß hat zuvor die kleine Anzahl Wartender unter die drei aufgestellten Party-Zelte getrieben. Der Bezirksbürgermeister von Friedrichshain, Helios Mendiburu (SPD), begrüßt die etwa 300 Teilnehmer der Gedenkveranstaltung. Die Fahnen der Sozialdemokraten und des Gewerkschaftsbundes beherrschen optisch das Bild. Ein kleiner Junge mit einer großen schwarz-rot-goldenen Fahne wird zum Mittelpunkt für die Fotoberichterstatter. Ein prominenter Alt-Linker, Ex-RAF-Anwalt und Grünen-Vorstandssprecher Hans-Christian Ströbele, trägt die französische Trikolore. Er will wohl an den Sturz des Bürgerkönigs Ludwig Philipp von Orléans am 25. Februar 1848 erinnern, dem politischen Anstoß zur deutschen Erhebung. Auch eine polnische Fahne ist zu sehen; sie erinnert an die gewaltsame Freisetzung inhaftierter Polen am 18. März 1848 aus Berliner Gefängnissen.

Im Reigen der Gedenkredner fällt ein Mann mit Baskenmütze auf, der leidenschaftlich an Revolutionäre erinnert, die hier durch keine Fahne vertreten werden und die auch sonst in den "Märzreden" wenig genannt sind – die Juden. Es ist Heinrich Simon von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der im Namen des angekündigten Vorsitzenden Nachama spricht. Simon erinnert an die 16 jüdischen Kämpfer, die hier im Friedrichshain beigesetzt wurden, und an die weiteren Gefallenen, die auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee ruhen.

Die Feier endet mit der Kinderhymne von Brecht

Um 1840 lebten in Preußen etwa 200.000 Juden. Gesetzliche Gleichstellung und volle Emanzipation waren ihnen versagt geblieben. Das Judentum war allerdings auch gespalten. Die meisten Juden wollten nicht als "jüdische Deutsche" im christlichen Sinne gelten. Assimilierung galt als Aufgabe jüdischer Eigenständigkeit. Eine kämpferische Minderheit focht jedoch für die kulturelle Integration und beteiligte sich aktiv an der Revolution von 1848/49 in Berlin und anderen Teilen Deutschlands. Herausragende Positionen nahmen dabei ein: Gabriel Riesser (1806–1865), Vizepräsident der Nationalversammlung, Johann Gustav Heckscher (1797–1865), Justiz- bzw. Außenminister im ersten "Reichsministerium", sowie die Mitglieder der Nationalversammlung von Breslau, Heinrich Simon (1805–1860) und Johann Jacoby (1805–1877).

Professor Simon erinnert in seinem Rückblick auch an Heinrich Heine und Karl Marx, die, aus jüdischem Elternhaus stammend, maßgeblich die Geistesströmungen des Vormärz und der Revolution mitbestimmten. Von den Vertretern der Religionsgemeinschaften erhielt er als einziger Beifall. Hier ähnelte Simon wohl Leopold Zunz, der 1848 als Jude eine vielbeachtete Rede an den Gräbern der 183 im Friedrichshain bestatteten Revolutionsopfer hielt.

Die schlichte Feier 150 Jahre danach klang mit der Kinderhymne von Bertolt Brecht aus, gesungen von Volker Schröder und ein paar Anwesenden. Der von der Stadt bestellte Chor war schon unbemerkt nach Hause gegangen.


 
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