© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/98 27. März 1998

 
 
Der Blick in die Zukunft
von Georg Willig

Die Gesetze der Naturwissenschaften lassen sich nicht auf die Geschichte anwenden. Keine Prognose erreicht hier den Grad der Zuverlässigkeit. Tendenzen sind zu vermuten, mit neuen, ungeahnten Entwicklungen muß immer gerechnet werden. Die zukünftige Entwicklung bleibt offen. Sie bietet Raum für unsere Freiheit.

Als die letzten Gläubigen an das eherne Gesetz der Geschichte, die Marxisten, die sie sich in ihrem Sinne entwickeln sahen und dabei erheblich mitgeholfen hatten, ihr Fiasko mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems erlebten, da waren auch schon wieder neue Propheten zur Stelle. Im Sommer 1989 veröffentlichte der amerikanische Historiker Francis Fukuyama einen Essay unter dem Titel "Das Ende der Geschichte", der kurz nach seinem Erscheinen in den USA und in der ganzen Welt ein immenses Aufsehen erregte. Seine These entsprach einem Bedürfnis nach den langen Jahren des Kalten Krieges. Was war der Kern seiner Aussage? Wir hatten nach ihm "den Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die allgemeine Verbreitung der westlichen liberalen Demokratie als die letzte Form der menschlichen Regierung erreicht".

In der Einschätzung der damals vorherrschenden Ereignisse und Entwicklungen hatte er sicher klar gesehen, vielleicht auch in einer sich langfristig abzeichnenden Tendenz. Aber die Geschichte verläuft nicht gradlinig. Veränderungen in den Gegebenheiten, Stimmungsumschwünge in weiten Bevölkerungskreisen und die daraus folgenden Entscheidungen der Politik können zu Umwegen, ja zu völlig neuen Wegen, zurückführen.

Wenn wir an den Fall der Mauer vor noch nicht einmal zehn Jahren zurückdenken, an den Aufbruch zu neuen Freiheiten, an das Aufatmen von Millionen, endlich der Ketten eines bevormundenden Staates ledig zu sein, dann wollen wir es nicht glauben, was die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann kürzlich konstatiert hat: "Unsere Gesellschaft steht dicht vor einer Rückkehr zum sozialistischen Verständnis von Freiheit, wie sie der Staat gewährt, Freiheit von Arbeitslosigkeit, von Armut im Alter, von Krankheitsfolgen." (Frankfurter Allgemeine vom 25. Februar 1998)

Wie kommt sie zu diesen ernüchternden Aussagen? Sie stellt zwei Fragen: "Was meinen Sie, ist es eigentlich vor allem eine Aufgabe des Staates, daß jeder von uns Arbeit hat, daß es genügend Arbeitsplätze gibt, oder würden Sie das nicht sagen?" Die Westdeutschen denken am Anfang des Wahljahres 1998 zu 54 Prozent, die Mitteldeutschen zu 74 Prozent, Arbeitsplätze zu sichern, sei vor allem Aufgabe des Staates. "Denken Sie", lautete die zweite Frage, "es ist vor allem Aufgabe des Staates, daß alle im Alter abgesichert sind, oder würden Sie das nicht sagen?" 64 Prozent der Westdeutschen und 77 Prozent der Mitteldeutschen sagten, daß es vor allem eine Aufgabe des Staates sei.

Freiheit ist heute in Deutschland kein zentrales Thema, folgert Noelle-Neumann unmißverständlich, denn auch die Anwort auf eine weitere Frage schließt jeden Zweifel daran aus: "Kürzlich sagte uns jemand: ‘Ich frage mich, was das für eine Freiheit sein soll, in der Millionen arbeitslos sind, immer mehr Leute von der Sozialhilfe leben müssen und die Großindustrie Rekordgewinne macht. Auf eine solche Freiheit kann ich verzichten.’ Würden Sie das auch sagen, oder würden Sie das nicht sagen?"

50 Prozent der Westdeutschen, 76 Prozent der Befragten in den neuen Bundesländern antworteten: "Würde ich auch sagen."

Dieser verbreitete Wunsch, in die als stark ersehnten Arme des Staates zurückzuflüchten, steht unter den Belastungen von Beschäftigungskrise und Staatsverschuldung im Gegensatz zu den Prognosen vom "Ende der Geschichte" und dem Sieg des liberalen Staates im Sinne Fukuyamas.

Die Geschichte geht ihre eigenen Wege, und die Propheten des Heils oder des Unheils werden über kurz oder lang vom Verlauf der Ereignisse überrollt oder vorerst einmal in die Ecke gestellt. Was ist nicht alles schon vorausgesagt worden?

Am 15. März 1968 lautete die Schlagzeile auf der ersten Seite der Zeit: "Prags Rückkehr nach Europa". Es sollte noch zwanzig Jahre dauern, bis es endlich soweit war. Am 18. März 1968 schrieb Rudolf Augstein im Spiegel: "Nirgends im weiten Ostblock könnte die Rote Armee heute eingreifen wie damals in Ungarn." Fünf Monate später rollte die Invasion der Roten Armee gegen die Tschechoslowakei. Das ganze Land wurde besetzt.

Eine wirtschaftlich glänzende Zukunft hat der damalige Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter den fünf neuen Bundesländern in einem Interview mit der Pariser Zeitung International Herald Tribune vorhergesagt: Ungeachtet der ökonomischen Talfahrt werde der Osten Deutschland binnen fünf Jahren wahrscheinlich "der modernste Teil Europa" sein, meinte Reuter in dem am 26. November 1990 veröffentlichten Gespräch. Und daß es in wirtschaftlicher Hinsicht "goldene neunziger Jahre" geben könnte, meinte der frühere Bayer-Chef Kurt Hansen auf dem traditionellen Professoren-Kolloquium der in München beheimateten Adolf-Weber-Stiftung, wie die Süddeutsche Zeitung am 2. Dezember 1988 berichtete.

Anerkannte Kompetenz schützt eben auch nicht vor grotesken Voraussagen. Philip Caret, geboren 1896 und 1995 noch Direktor des 1928 von ihm gegründeten Pioneer-Investment-Fonds, antwortete auf die Frage, ob es ihn als professionellen Geldanleger störe, daß sich viele Vorhersagen über die Wirtschaftsentwicklung als falsch erwiesen haben: "Nein, denn solche Vorhersagen habe ich niemals als Entscheidungshilfe herangezogen. Ich kann mich noch gut an eine Diskussion erinnern, die 1930 stattfand. Zwei Spitzenökonomen aus Harvard, die beide eine für damalige Verhältnisse ungeheure Summe von fünftausend Dollar im Jahr verdienten, waren sich einig, daß der Börsenkrach des Vorjahres nichts anderes bewirkt habe, als die Wirtschaft von einigen Übertreibungen zu befreien. Weitere Auswirkungen auf den Gang der Geschäfte seien mit einiger Sicherheit nicht zu befürchten. Und das sagten sie am Vorabend der schlimmsten Rezession, die Amerika je gesehen hat!"

Aber nicht nur Individuen mit Kompetenz ist im Hinblick auf ihre Einschätzung künftiger Entwicklungen allenfalls mit Vorsicht zu trauen. Auch ganze Teams hochkarätiger Wissenschaftler sind vor Irrtümern nicht gefeit, wenn sie die Zukunft auch nur ein paar Jahre im voraus zu beschreiben wagen. Der 1980 von der amerikanischen Regierung vorgelegte Bericht "Global 2000" zeichnete ein sehr düsteres Bild von der Welt im Jahre 2000 und sagte einen Niedergang der Weltzivilisation infolge von Energie- und Rohstoffmangel, Umweltzerstörung und Überbevölkerung vorher.

In einem Gegenbericht verwarf eine andere Gruppe führender Wissenschaftler diesen Bericht wegen wissenschaftlicher Mängel und politischer Tendenzen und kam zu der Ansicht, daß die Zivilisation bei Weiterentwicklung von Industrie und Technik Fortschritte machen und es der Weltbevölkerung in 20 Jahren besser gehen werde als heute.

Alle diese fragwürdigen Prognosen können aber nicht den Schluß zulassen, daß es langfristig keine Tendenzen gäbe, die zu bestimmten Ergebnissen führen müssen. Wer täglich mehr ausgibt, als er einnimmt, der wird eines Tages seine Schulden nicht mehr bezahlen können – es sei denn, er macht eine Erbschaft.

Aber mit so einfachen und unabweisbaren Prognosen gibt man sich leider nicht zufrieden: man glaubt ihnen oft sogar gar nicht, im Gegensatz zu den weitreichenden Spekulationen. Vor Prognosen, in denen sich auch die gewissenhafte Analyse der entscheidenden Faktoren mit ideologischen Vorurteilen vermischt, wo Wünsche oder Abneigungen in die nüchterne Bilanz drängen, da ist Vorsicht geboten.

Zwei Ausnahmen aber beweisen, daß wir nicht immer im Dunkeln tappen müssen, wenn in einer begrenzten Fragestellung, bei genauer Kenntnis der Fakten und der Umstände, bei Vorurteils- und Leidenschaftslosigkeit Schlüsse gezogen werden.

Bereits 1969 publizierte Andrej Amalrik (1938–1980) den Essay "Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?" Er irrte sich nur um ein halbes Jahrzehnt. 1976 erschien von Emmanuel Todd (geb. 1951) das Buch: "Vor dem Sturz – Das Ende der Sowjetherrschaft". Auch er erkannte im voraus, was geschehen mußte. Hier waren Analytiker am Werk, die sich von den vorherrschenden Stimmungen und Wünschen ihrer Zeit nicht beeinflussen ließen. Unter diesen Voraussetzungen wird es wohl immer wieder einmal Vorhersagen geben, die nützlich sein können oder die uns im nachhinein erstaunen lassen.


 
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