© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/98 27. März 1998

 
 
Johann Gustav Droysen: Die Wiederentdeckung eines großen nationalliberalen Historikers
Mist von Jahrhunderten abtragen
von Klaus Hornung

Historische Gedenktage wie der an die Märzrevolution 1848 sind willkommene Anlässe, gegen den heute verbreiteten "historischen Analphabetismus" (Alfred Heuß) der Deutschen etwas zu tun. Es sind vor allem drei historische Daten, die geeignet sind, die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts für die Nachgeborenen zu rekonstruieren: 1808 war das wichtigste Jahr der großen Staats- und Heeresreform in Preußen durch den Freiherrn vom Stein, Gerhard von Scharnhorst und Wilhelm von Humboldt, die das preußisch-deutsche Jahrhundert recht eigentlich eröffnete. 1848 brachte den ersten Höhepunkt der deutschen Nationalbewegung, ohne die die anschließende Reichseinigung durch den "weißen Revolutionär" Bismarck (Lothar Gall) 1870/71 kaum möglich gewesen wäre, in der sich liberale Ideen mit der traditionellen Staatlichkeit in Deutschland verbanden. Und als Bismarck im Juli 1898 im 84. Lebensjahr starb, war wieder eine Epochenmarke erreicht. Es begann das sogenannte Wilhelminische Zeitalter mit seinem Auftrumpfen und mancher Oberflächlichkeit, seinem imperialistischen Gefahrenkurs.

Johann Gustav Droysens Lebensweg spannte sich von den Jahren der Erniedrigung und Reform bis in die späten Bismarck-Jahre (1808–1884). Er wurde zu einer der zentralen Gestalten der deutschen nationalliberalen Bewegung im 19. Jahrhundert. Im Elternhaus zu Treptow an der Rega in Pommern bildeten die formenden Mächte von Preußentum, Luthertum und Antike eine fraglose Einheit. Die "drei unvergeßlichen Jahre" des Befreiungskrieges 1812–1815 erfüllten seine Knabenzeit. An der Berliner Universität erlebte der Student ab 1826 die Baudenkmäler Karl Friedrich Schinkels und die Marmorstatuen Christian Daniel Rauchs Unter den Linden und auf dem Gendarmenmarkt, wo sich der siegreiche preußische Militärstaat mit dem Klassizismus des aufstrebenden Bürgertums verband. Es war die Blütezeit der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels und der neuen Geschichtswissenschaft Barthold Georg Niebuhrs, Leopold Rankes, Philipp August Boeckhs. 1832 erscheint des gerade Vierundzwanzigjährigen Übersetzung der Tragödie des Äschylos, ein Jahr später seine schwungvolle Geschichte Alexanders des Großen.

Der Absolutismus hatte das Einheitsbewußtsein zerstört

Das Einigungswerk der Griechen durch Makedonien wird zum Modellfall für Preußens Aufgabe in Deutschland. Aus der Entzifferung des Sinns der Geschichte will Droysen die leitenden geistigen und sittlichen Kräfte für seine Gegenwart gewinnen.

So ließ die Wende zur Politik und Geschichte der eigenen Zeit bei Droysen nicht mehr lange auf sich warten, auch zu seiner Einmischung in die zentralen politischen Streitfragen der Zeit, die Gewinnung der deutschen Einheit und Freiheit. Droysen wird zu einem der frühesten und leidenschaftlichsten Vorkämpfer von "Preußens deutschem Beruf", seiner Berufung für die Einheit.

Inzwischen Professor in Kiel, hält Droysen hier Vorlesungen über "Das Zeitalter der Befreiungskriege", das er in einen breiten europäischen und geistigen Kontext stellt (als Buch zuerst 1846). Es folgt 1851 die Biographie des Feldmarschalls Yorck von Wartenburg, des Mannes von Tauroggen 1812, und eine vielbändige "Geschichte der preußischen Politik" (1855–1881). Die preußische Reform nach 1806 versteht Droysen als Reaktion auf das Militärkaisertum und den Hegemonie-Anspruch Napoleon Bonapartes, aber auch auf die vorangegangenen drei Jahrhunderte "wachsender Entrechtung, Zersplitterung und Ohnmacht" des Alten Reiches. Glaubensspaltung, fürstlicher Absolutismus und Feudalismus hatten das Einheitsbewußtsein der Deutschen zerstört. Die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung sah Droysen ganz im Rahmen der großen universalen Tendenzen Europas seit Renaissance, Reformation und Humanismus, wobei er besonders den amerikanischen Freiheitskrieg gegen die britische Kolonialherrschaft hervorhebt, die, wie das englische aristokratische System überhaupt, keine guten Noten erhält. Droysen hatte jedenfalls keine "Sonderwegs"-Komplexe bei der Ausformung seines politischen Programms, in dem Preußen zum Kern eines künftigen deutschen Bundesstaates werden, Österreich-Habsburg aber aus ihm ausscheiden soll, also jenes kleindeutschen Konzepts, das dann die Frankfurter Nationalversammlung wie auch Bismarck aufgreifen sollten.

Droysens wissenschaftliche und politische Tätigkeit in Kiel als einer der Wortführer des Protests gegen die Einverleibung Schleswig-Holsteins durch Dänemark war eine politische Schule für die spätere Wirksamkeit in Frankfurt am Main. Kiel bot einen idealen Beobachtungsposten, um die europäischen Gegenwirkungen gegen das deutsche Einheitsprojekt kennenzulernen, insbesondere das Widerstreben der beiden europäischen Flügelmächte England und Rußland sowie – natürlich – Frankreichs.

Droysen kritisierte das Metternichsche System

In der Frankfurter Nationalversammlung wurde Droysen bald zu einer der führenden Persönlichkeiten des nationalliberalen "rechten Zentrums", nach dem Tagungsort "Casino-Fraktion" genannt.

Es war die stärkste politische Gruppierung der Paulskirche mit ihrem Programm zwischen dynastisch-bürokratisch-einzelstaatlichem Absolutismus einerseits und den radikal-demokratisch-republikanischen Tendenzen andererseits. Zentraler Programmpunkt war die konstitutionelle Monarchie im Inneren der deutschen Staaten und der deutsche Bundesstaat unter preußischer Führung mit gemeinsamer Regierung und Parlament. Droysen war jedenfalls überzeugt, daß die Märzrevolution den "ganzen Dunstkreis stinkender, kriechender, ohnmächtiger Erbärmlichkeit" des Metternichschen Systems in einer Nacht zerrissen hatte. Dieses "System von 1815" hatte auf der "deutschen Ohnmacht und Selbstlosigkeit" beruht. Jetzt schien der Weg frei, Deutschland als "Gesamtmacht in der Reihe der europäischen Mächte" zu organisieren, ein liberales geeintes Deutschland, das als "Herzschild Europas" den europäischen Frieden sichern sollte. Jetzt bestand die Aussicht, die in den traditionellen partikularistischen, dynastischen und konfessionellen sowie ausländischen Interessen begründete Bedeutungslosigkeit Deutschlands zu überwinden. Da Europa aber nur eine kleindeutsche Lösung zu akzeptieren gewillt war, mußte das erbliche Kaisertum von den Habsburgern auf die Hohenzollern übergehen, "die Stelle, die seit den Hohenstaufen leergeblieben war".

Eineinhalb Jahre nach dem Frühling von 1848 mußte Droysen sich eingestehen, daß "der Versuch, die politische Einheit Deutschlands durch Beschlüsse einer nationalen Gesamtversammlung herzustellen, mißlungen ist. Die Wirklichkeiten begannen über die Ideale, die Interessen über die Ideen zu siegen." Aber auch weiterhin hoffte er, daß auf das neue "1806" wieder ein "1813" folgen werde, wenn Deutschland "weder kosakisch noch demokratisch" werden sollte. Natürlich gab es in Europa viele, die die Ohnmacht der Mitte verewigen wollten. Für den deutschen Patrioten ging es aber darum, daß "unser armes, müdes vielgeteiltes Deutschland" nicht zwischen Frankreich und Rußland aufgerieben wurde, was Droysen sowohl außenpolitisch wie verfassungspolitisch verstand: also weder zaristische Autokratie noch demokratische Republik.

Die Erfahrungen des Revolutionsjahres führten auch Droysen, wenn auch zögernd, auf den Weg der "Realpolitik". Zunächst konnte auch er sich mit Bismarck nicht befreunden, und noch im Mai 1866 sprach der Liberale Droysen von seinem "Ekel an dem inneren Regiment Bismarcks". Als dann aber die Entscheidung von Königgrätz gefallen war, sah er darin den "endlichen Triumph" des rechten deutschen Geistes, von 1517 und 1813, über den bisherigen verhängnisvollen Weg des Partikularismus und Konfessionalismus, eine Fortsetzung des Weges Preußens seit Friedrich dem Großen, der seit 1740 daran gearbeitet hatte, "den Mist von Jahrhunderten, der die deutsche Nation zudeckte, abzutragen". Sein tiefsitzender Zorn richtete sich nicht zuletzt gegen den deutschen Adel, der das "Gift von 1648" und der Rheinbundzeit wie ein "Opiumraucher" in sich aufgenommen hatte. Im Oktober 1866 nennt Droysen Bismarck nun "eine der seltenen staatsmännischen Kapazitäten", während er die "süddeutschen Brüder" noch heftig kritisiert. "Hätte die Nation mehr Verstand als Indolenz, mehr Wehrhaftigkeit als Schwindel, mehr Erkenntnis ihrer Schwäche und ihres Elendes als die behaglich faule Selbstzufriedenheit ihrer demütigenden Lage, sie würde Gott danken, daß endlich ein Herkules kommt, den Augiasstall reinzukehren, den sie vollgemistet hat".

Bismarck reichte den Natioalliberalen die Hand

Es gehört heute zu den bekannten Weisheiten der Nachgeborenen, die vom geschichtlichen Rathaus kommen, die Wendung des deutschen Liberalismus zu Bismarcks "Realpolitik" zu beklagen und diese als pure Machtpolitik mißzuverstehen. Das ist jedoch völlig unhistorisch gedacht und bedenkt nicht die Lage der damals Handelnden und Denkenden. Sie standen unter dem Eindruck des Scheiterns des hochgemuten Einigungsversuchs von 1848. Aus dem Nachdenken darüber, was man falsch gemacht hatte, keimte die Hinwendung zu Bismarck, jedenfalls in der Außenpolitik. So beklagte Droysen am Fortschritts-Liberalismus Eugen Richters, Rudolf Virchows und Eduard Laskers vor allem dessen fehlenden Sinn für eine realistische Außenpolitik und schrieb in einem Brief an Heinrich von Treitschke: "Ich bin wahrlich von Herzen liberal, aber diese deutsche Freiheitsgeilheit bei schimpflicher politischer Ohnmacht ekelt mich an". Und Bismarck selbst reichte den Nationalliberalen die Hand beim inneren Aufbau des Reiches. Der Bruch mit den Ideen der Freiheit erfolgte zu wesentlichen Teilen erst nach der Jahrhundertwende im Zeichen des Wilhelminismus mit seinen Großmanns-Allüren. Das Denken und Handeln der Nationalliberalen vom Schlage Droysens ist jedenfalls in wesentlichen Teilen zum guten Faden der Geschichte unseres "schwierigen Vaterlandes" zu zählen.


 
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