© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/98 20. März 1998

 
 
Parteien: Professor Günter Rohrmoser über den drohenden Niedergang der CDU
"Wir brauchen eine radikale Mitte"
von Gerhard Quast

 

Herr Professor Rohrmoser, trotz der katastrophalen Niederlage der CDU in Niedersachsen läßt sich Bundeskanzler Helmut Kohl immer noch feiern.

ROHRMOSER: Das ist etwas euphemistisch ausgedrückt, daß Kohl sich noch feiern läßt. Natürlich stehen die CDU-Mitglieder, vor allem die Delegierten seines eigenen Landesverbandes, in Treue fest zu ihm. Wenn Gefahren drohen, schließen sich die Reihen fester und dichter zusammen. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Nur darf diese Geschlossenheitsdemonstration nicht davon ablenken, daß die Unruhe in der CDU natürlich ganz gewaltig ist.

Zum Beispiel, was die Frage des besseren Kanzlerkandidaten angeht?

ROHRMOSER: Die Diskussion darüber, ob Kohl der richtige Kanzlerkandidat ist, ob er alleine in den Wahlkampf ziehen soll oder mit Herrn Schäuble zusammen, ob man ihm eine Mannschaft zur Seite geben soll und wie lange er denn – wenn er Kanzler werden sollte – er es noch bleiben darf. Diese Forderungen und Thesen verbreiten den Eindruck einer kakophonischen Rat- und Orientierungslosigkeit. Noch immer weiß man nicht genau, will die CDU einen Richtungswahlkampf oder einen Lagerwahlkampf führen, oder sogar beides. Ungeklärt ist aber, um welche Richtung es gehen könnte. Beide, der SPD-Kanzlerkandidat wie die CDU, sind sich einig in der Forderung, ein modernes Deutschland zu schaffen. Beide lassen durchblicken, daß das ohne wesentliche soziale Einschränkungen und Kosten gehen wird. Für die SPD bedeutet das die Rückkehr zum Programm von Helmut Schmidt, das heißt, sie kämpft nicht mehr um die Addition von Minderheiten und sogenannten sozialen Bewegungen, sondern sie kämpft um die Mitte. Auch Kohl will das moderne Deutschland schaffen und verspricht, daß die soziale Gerechtigkeit darunter nicht leidet. Beide Parteien bieten im Grunde genommen nichts neues. Die Parolen sind seit zwanzig und mehr Jahren bekannt, und beide Matadoren betreten das Schlachtfeld, als seien sie noch im jungfräulichen Stande der Unschuld, dabei sind uns beide Kandidaten wohlbekannt. Wer wissen will, was der Ministerpräsident Schröder leistet oder nicht leistet, kann sich jederzeit informieren. Was Kohl geleistet hat, scheint den Leuten etwas deutlicher zu sein. Nur so sind die Umfragen zu erklären: 62 Prozent wollen gegenwärtig Herrn Schröder als Kanzler und nur 28 Prozent Herrn Kohl.

Wann kehrt die Union auf den Boden der Realitäten zurück und erkennt, daß Inhalte gefragt sind?

ROHRMOSER: Die Realität, die er einbringen will, hat er benannt. Er will sich selbst einbringen. Er will es den Leuten noch einmal zeigen und jetzt erst recht, nachdem er bemerkt hat, daß es viele gibt, die ihn nicht mehr haben wollen. Das läuft also auch auf die Wiederholung des ewigselben hinaus: Das Programm der CDU heißt, wenn es Ernst wird, Kohl. Und alle anderen Fragen verschwinden dahinter. Und so ist die ganze Aufregung um die Kandidatenaufstellung, wie überhaupt um die ganze Wahl, eigentlich gar nicht zu verstehen.

Die Menschen verbinden mit den Bundestagswahlen sowohl Hoffnungen wie Ängste. Die Aufregung ist da doch durchaus verständlich?

ROHRMOSER: Ich frage mich aber, was die Leute denn eigentlich erwarten, was sich in Deutschland ändern wird, sei es nun, daß Herr Schröder Kanzler wird oder Kohl es bleibt. Es kommt nicht darauf an, zu den Realitäten zurückzukehren. Das sind die Realitäten von verselbständigten, nach rein manipulativen Gesetzen ablaufenden Wahlkämpfen, die zwar immer mit Donnergrollen geführt werden, die aber immer mehr den surrealistischen Charakter von artifiziellen Darbietungen mit sinkendem Unterhaltungswert haben. Worauf es doch ankäme, wäre, eine Antwort zu geben, wie die Lage, in der sich Deutschland befindet, tatsächlich aussieht, welche Herausforderungen damit verbunden sind und welche Antwort man auf diese Herausforderungen geben will. Das wäre eine spannende Frage, aber davon ist nicht die Rede, sondern man suggeriert, daß alles anders wird und gleichzeitig alles so bleiben könne, wie es ist.

Hat die CDU/CSU mit einem Kanzlerkandidaten Kohl überhaupt eine Chance?

ROHRMOSER: Die Frage nach der Chance der Union ist eigentlich ernsthaft gar nicht zu beantworten. Es ist eine Frage unserer Stimmungs- und Mediendemokratie. Niemand weiß, was für eine Stimmung in Deutschland kurz vor den Wahlen vorherrschen wird und wie die Bürger aus dieser Stimmung heraus wählen werden, denn mit dem Verlust dessen, was man die Ideologien genannt hat, hat auch der Parteienwahlkampf seinen ernsthaften, Alternativen schaffenden politischen Charakter verloren. Die einseitige Verlagerung auf die Frage der Kandidaten zeigt nur einen neuen Höchststand der Entpolitisierung unserer Politik an.

Können Sie das an einer Sachfrage konkretisieren?

ROHRMOSER: Wenn es eine politische Entscheidung gibt, die tief in das Leben jedes einzelnen eingreifen wird oder könnte, dann ist das die Abschaffung der D-Mark. Um diese wirklich schicksalhafte Entscheidung hat es in Deutschland faktisch keine wirkliche Auseinandersetzung gegeben, den Bürgern wird keine ernsthafte politische Alternative angeboten, sondern es gibt eine Art von Regierungspropaganda, die wir auch aus früheren Zeiten kennen, und es gibt vor allen Dingen keine Möglichkeit für das Volk, sich in dieser es vital berührenden Frage zu artikulieren. Wir wissen, daß 70 Prozent dagegen sind, wir wissen auch, daß – wenn wir die Diskussionen der Experten verfolgen – die überwältigende Mehrheit dieses Maastricht-Europa für ein Abenteuer mit inkalkulaten Risiken hält, dem sicher auch einige Chancen gegenüberstehen, und trotzdem wird diese Sache an der Demokratie und am Volk vorbei durchgedrückt. Der unabsehbare Schaden, den ein solches Verfahren – gerade von denen, die uns ständig mit religiöser Inbrunst die demokratischen Prinzipien beschwören – anrichten wird, wird erst dann deutlich, wenn die Träume nicht in Erfüllung gehen sollten, die man mit der Einführung des Euro meint verbinden zu können. Das heißt, es geht heute nicht – wie immer wieder gesagt wird – nur um die Entpolitisierung, sondern es geht tatsächlich um das Schicksal der Demokratie. Welchen Sinn haben denn Wahlen überhaupt noch, wenn – wie Lambsdorff feststellte – 70 Prozent aller wichtigen Entscheidungen heute schon von Brüssel getroffen werden und dieser Prozentsatz nach der Einführung des Euro noch zunehmen wird? Wenn ein apolitisches Expertengremium die Hoheit über die europäische Währung ausüben wird, dann geht es nicht nur um das mögliche Ende der Politik, sondern es geht um die Demokratie selber. Der Schaden, der der Demokratie durch die Umtriebe von einigen Verrückten auf unseren Straßen zugefügt wird, ist im Verhältnis zu dieser Gefährdung, die nun wirklich an die Wurzeln der Demokratie geht, eine zu vernachlässigende Kleinigkeit.

Welchen Sinn haben dann Wahlen überhaupt noch? Ist das Anwachsen der Nichtwähler eine bewußte oder unbewußte Reaktion darauf?

ROHRMOSER: Die Zahl der Nichtwähler hat bisher immer zugenommen. Es kann sein, daß angesichts der Möglichkeit, daß die Grünen Deutschland mitregieren könnten, noch einmal einen so großen mobilisierenden Effekt hat, daß die Zahl der Nichtwähler stagnieren oder vielleicht sogar geringfügig zurückgehen wird. Auf längere Sicht werden die Nichtwähler allerdings zur zweitstärksten Partei in Deutschland. Das scheint die Politiker aber offensichtlich nicht weiter zu beunruhigen.

Was passiert, wenn die CDU/CSU ihre Wähler zwar mobilisieren, aber trotzdem ihr Klassenziel nicht erreichen kann? Wird es zu einer Zerreißprobe kommen?

ROHRMOSER: Vor einem Jahr hätte ich diese Frage nach der möglichen Zerreißprobe noch sehr affirmativ beantwortet, während ich jetzt Zweifel habe, ob aus der CDU überhaupt noch etwas hervorgehen kann. Die Partei ist inzwischen so entmannt und eines eigenen politischen Willens beraubt – kraft der Last, die seit 20 Jahren auf ihr ruht –, daß wir eher an die Vorgänge denken müssen, die zum Verschwinden der Democrazia Cristiana in Italien geführt haben. Ich denke da weniger an große explosive Auseinandersetzungen. Die Konsequenz des möglichen Ausscheidens der CDU aus der Regierung wirft viel eher die Frage auf, ob man der dann vereinigten grünen Linken (mit rechten und konservativen Einsprengseln) überhaupt noch eine politische Kraft gegenüberstellen kann, die in der Lage ist, sie abzulösen.

Welche Bedeutung wird die CDU dann überhaupt noch haben?

ROHRMOSER: Die CDU wird natürlich im Parlament eine relevante Größe bleiben. Es ist allerdings die Frage, was aus dem Parlament wird, denn die großen und wichtigen Entscheidungen sind nicht das Ergebnis von offenen parlamentarischen Auseinandersetzungen, wie wir sie in der Frühphase der Bundesrepublik erlebt haben, sondern sie finden in Ausschüssen jenseits der Öffentlichkeit, in Koalitionsgremien und an sogenannten Runden Tischen statt, wie sie von der Verfassung nicht vorgesehen waren.

Die Frage, wer der aussichtsreichere Kanzlerkandidat sei, ist also ein Scheingefecht?

ROHRMOSER: Ich kann diesem Streit keine höhere Bedeutung zubilligen, sondern halte ihn für gefährlich, weil er von der Erkenntnis der wirklichen Lage und den tatsächlichen Problemen ablenkt und an die Wurzel unserer Misere nicht heranreicht, und insofern brauchen wir keine neue Mitte, wie Herr Schröder sie proklamiert hat. Vielmehr brauchen wir eine radikale Mitte, die erkennt, daß eine Reduktion des Politikbegriffs auf Förderung von wirtschaftlichem Wachstum und quasi-sozialistischer Umverteilung am Ende ist und daß die Verhältnissse, wie sie sich entwickelt haben, ohne kulturrevolutionäre Veränderungen nicht zu verbessern sind. Wir brauchen nur nüchtern die Frage stellen, was Kohl bei seinem Amtsantritt versprochen und was er davon gehalten hat. Oder genauer gesagt, was er alles nicht gehalten hat. Jetzt wird deutlich, was die halbherzige, auf kleinen Münzen reduzierte geistig-moralische Wende, d.h. ihr faktisches Ausbleiben, für die CDU bedeutet. Die geistige, ethische Erneuerung ist heute keine Kennmarke mehr der CDU. Der geistig-moralische Niedergang dieses Landes ist die wahre Ursache auch unserer ökonomischen und finanziellen Probleme, die einer technokratisch inspirierten Politik verborgen bleibt.


 
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