© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/98 20. März 1998

 
 
Separatismus: Patrice Abeille, Chef der Provisorischen Regierung, über das Erwachen Savoyens
"Savoyen ist nicht französisch"
von Thierry Jigourel

Herr Abeille, seit Jahrzehnten kann man in Frankreich das Auftauchen regionalistischer und nach Unabhängigkeit strebender Bewegungen beobachten. Zuerst hat man von den Bretonen gesprochen, dann von den Korsen und den Basken. Im Gegensatz dazu kennt man die Savoyer erst seit drei Jahren, seit dem Auftauchen der Savoyischen Liga. Können Sie etwas zur Geschichte Ihres Volkes sagen?

ABEILLE: Charakteristisch ist, daß die Savoyer, die zum französischen Kulturraum gehören, Frankreich oft kennengelernt haben, indem sie Invasionen, Besetzungen und Annexionen – insgesamt acht – zu ertragen hatten. Savoyen, dessen staatlicher Keim von Graf Humbert dem Ersten gelegt wurde und das sehr lange Zeit die Aggressionen seines französischen Nachbarn zu erleiden hatte, feierte vor nicht all so langer Zeit sein 1000jähriges Bestehen. Unsere Kinder lernen in der Schule immer noch die Fakten und Heldentaten Franz’ I., Heinrichs IV., Ludwig XIV., Napoleons I. und Napoleons III., die alle in Savoyen einmarschiert sind, es annektiert oder beherrscht haben; auf eine mehr oder weniger gerissene oder blutige Art und Weise. Nach jeder Annexion hat Savoyen seine Unabhängigkeit wiedererlangt. Wir hoffen, daß auch die Annexion von 1860 durch den Lauf der Geschichte annulliert wird.

 Läßt sich das Erwachen der Savoyer datieren?

ABEILLE: Das identitätsstiftende Gefühl ist in Savoyen 1972 erwacht, nachdem die Savoyer sich darüber bewußt geworden waren, daß sie in eine Region Rhône-Alpes eingemeindet werden, ein weitläufiges seelenloses Konglomerat, das von dem Dreieck Lyon-Grenoble-Saint-Étienne beherrscht wird. Trotz eines mehrheitlichen Votums der Mandatsträger zugunsten der Schaffung einer Region Savoyen wurde das Projekt durch Mauscheleien durchgesetzt.

 Wann kam es zu einer organisatorischen Bündelung der savoyischen Kräfte?

ABEILLE: Zwanzig Jahre lang wurde jede Energie, die sich für Savoyen entfalten konnten, vom Mouvement Région Savoie (MRS) kanalisiert. Dies führte – bewußt oder unbewußt – in eine regionalistische Sackgasse. 1994 entschloß sich Jean de Pingeon das MRS zu verlassen und gründete eine nach Souveränität strebende, rechtstreue und pazifistische Bewegung: die Savoyische Liga.

 Bei der Lektüre Ihrer Veröffentlichungen fällt auf, daß die Savoyische Liga mehr durch den Souveränitätsgedanken als nationalistisch inspiriert ist. Können Sie das präzisieren?

ABEILLE: In unseren Statuten heißt es, das Ziel der Savoyischen Liga ist die "Wiederherstellung der Souveränität des savoyischen Volkes, indem die Nichtigkeit des Annexionsvertrages vom 24. März 1860 festgestellt wird". Es geht also um die Wiederherstellung eines unabhängigen Staates. Ich glaube, daß die Geschichte uns daran gewöhnt hat, gegenüber Nationalismen – sei es der italienische, der französische oder der deutsche – vorsichtig zu sein. Nationalismus in Savoyen bedeutet für uns erlittener Krieg. Im Gegensatz dazu haben wir Völker vor Augen, die es verstanden haben, entgegen aller Nationalismen zu gedeihen: das Volk des Aosta-Tals, das seine alpenländische und frankophone Identität im Rahmen der italienischen Republik beibehält, und das Schweizer Volk, in dessen Land, dank eines Föderalismus, vier Sprachen und 23 verschiedene Kantone nebeneinander existieren.

 Sie beziehen sich bei Ihrer Forderung nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit immer auf den Vertrag von Plombières und auf seine Verletzung durch den französischen Staat?

ABEILLE: Der Inhalt dieses Vertrag bestand darin, Savoyen und Nizza gegen militärische Hilfe Frankreichs – eine Armee von 200.000 Mann – auszutauschen, um die Lombardei und Venetien von der österreichischen Herrschaft zu befreien. 1859 erlaubte die Armee Napoleons III. den Piemontesern, die Österreicher aus Mailand zu verjagen. Aber der Feldzug wurde nicht bis Venetien fortgesetzt. Nach einigem Zögern wurde die vorgesehene Gegenleistung durch den Annexionsvertrag vom 24. März 1860, durch den Savoyen und Nizza an Frankreich angegliedert wurden, zugestanden. Dieser immer noch gültige Vertrag ist die einzige Legitimation der französischen Behörden auf dem Boden Savoyens. Diese Situation ist einmalig in Frankreich. Besonders deshalb, weil Artikel 1 des Vertrages seine Inkraftsetzung vom Ausgang einer Volksabstimmung abhängig machte. Sie wurde in Savoyen am 22. und 23. April 1860 tatsächlich durchgeführt. Kein anderes französisches Gebiet hat jemals seiner Einverleibung zugestimmt. Heute ist es offenkundig, daß die Volksabstimmung von 1860 nicht demokratischer war als die anderen Abstimmungen des Second Empire (keine Nein-Stimmen, keine Wahlkabinen, keine Briefumschläge). Dennoch billigte die Abstimmung des Volkes die Ausdehnung der Freizone in Nord-Savoyen und die Beibehaltung der Schweizer Neutralität im Kriegsfalle. Diese beiden Bedingungen der Annexion Savoyen wurden von Frankreich 1919 abgeschafft, ohne das Volk zu befragen.

"Die EU scheint dazu verdammt zu sein, sich zu reformieren – oder zu zerfallen"

 Mit welcher Konsequenz?

ABEILLE: Für uns ist, seit Frankreich die Bestimmungen des Annexionsvertrages angetastet hat, Savoyen nicht mehr rechtmäßig französisch und kann somit verlangen, daß es seine vollständige Souveränität zurückerhält.

 In den gut zwei Jahren Ihres Bestehens scheint sich Ihre Bewegung beachtlich entwickelt zu haben. Wie groß ist Ihre wirkliche Bedeutung?

ABEILLE: In der Tat entwickelt sich die Savoyische Liga schnell. Am 19. Februar 1996, anläßlich unseres ersten Nationalfestes, waren wir knapp 1000. Am 26. Mai 1996, bei unserem ersten Kongreß, bereits 2000. Zur Zeit haben über 3500 Mitglieder. Aber es bleibt uns noch enorm viel zu tun, um eine Million Savoyer zu überzeugen, denn die Medien erfüllen ihren Informationsauftrag nicht, sie ziehen es vor, uns zu karikieren, unsere Ideen anzugreifen; aber meistens verschweigen sie uns ganz. Die Auslegung unserer Stimmzettel "Savoyen" in den Wahllokalen bei den vorgezogenen Parlamentswahlen erlaubte uns, die Zahl unserer Sympathisanten auf über 30.000 zu veranschlagen.

 Sie waren in Varese beim "Tag der Freiheit der Völker" anwesend, der von der Lega Nord organisiert wurde.Welche Beziehungen haben Sie zur Bewegung Umberto Bossis?

ABEILLE: Die Lega Nord war die zweite Bewegung, nach der Unabhängkeitsbewegung des Aosta-Tals, die die Aktion der Savoyischen Liga begrüßt und anerkannt hat. Wir haben dann auf verschiedenen Ebenen Kontakte geknüpft, im Aosta-Tal, in Piemont, in der Lombardei und auf der Ebene der föderalen Liga und der provisorischen Regierung. Auch wenn man Savoyen kaum mit Padanien vergleichen kann, so sind wir doch in völligem Einklang, was den Bruch mit den zentralistischen Staatsnationen und die Schaffung eines Europas der Völker und Regionen angeht. Niemand kann sagen, wie das Europa des nächsten Jahrhunderts aussehen wird. Die EU scheint dazu verdammt zu sein, sich von Grund auf zu reformieren oder zu zerfallen. Für die Zukunft Savoyens bevorzugen wir eine alpine Konföderation, daher auch unsere Kontakte mit Padanien, aber auch der Schweiz und Österreich. In einem ersten Schritt wird Savoyen seine Politik mit denen der anderen Alpenländer koordinieren müssen, im Geiste einer guten Nachbarschaft. Danach muß man schauen, ob freiwillige Zusammenschlüsse in Betracht gezogen werden können, die in eine Art Konföderation münden.

 Wären Sie zu einer Union autonomistischer und föderalistischer Formationen in Frankreich bereit?

ABEILLE: Warum nicht. Aber mit wem? Im Moment sehen wir in Frankreich keine Bewegung, die der Lega Nord vergleichbar wäre. Das Auftauchen der Savoyischen Liga im Jahr 1996 hat viel Neugier hervorgerufen, aber keinerlei Unterstützung der französischen Bewegungen. Das ist sehr natürlich: Die ganze Geschichte Savoyens bindet es eher an Mitteleuropa – Savoyen gehörte zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – und den alpenländischen Kreis als an Frankreich.

 Im Laufe des letzten Jahrzehntes sind die künstlichen Konstruktionen Ost- und Mitteleuropas wie Kartenhäuser zusammengefallen. Zur Zeit sind es Länder Westeuropas, die unter dem Druck der lange ihrer historischen Rechte beraubten Völker rissig werden. Wie bewerten Sie diese Situation und welches Europa streben Sie an?

ABEILLE: Die Ereignisse, die Sie ansprechen, sind im Rahmen einer viel weiter gefaßten Bewegung anzusiedeln, bei der es sich im großen und ganzen um die Entkolonialisierung und Befreiung der Völker handelt. Angefangen in Amerika hat sich diese Bewegung von 1945 auf Asien ausgeweitet und dann beschleunigte sie sich in Afrika um 1960. Nach einer Pause aufgrund der sowjetischen Erstarrung hat diese Bewegung 1989 Ost- und Mitteleuropa erfaßt. Zur Zeit erreicht sie Westeuropa. Manche Staaten verstehen es, sich anzupassen, beispielsweise Belgien, Spanien, Deutschland und vielleicht Großbritannien, während andere sich auf ihre zentralistischen Prinzipien versteifen, wie etwa Frankreich und Italien. Genau genommen betrachten wir Savoyen als letzte französische Kolonie. Frankreich entnimmt hier jährlich vier Milliarden Francs an Steuern, sechs Milliarden über den Umweg der Sozialabgaben, dazu kommen noch die konfiszierten Gewinne der verstaatlichten oder teilweise staatlichen Gesellschaften. Es ist an der Zeit, daß die Savoyer sich die Früchte ihrer Arbeit wieder aneignen, sich eine Verwaltung geben, die ihren Bedürfnissen am besten entgegenkommt, freiwillige Solidarität gegenüber denen zu üben, die sie nötig haben, anstatt sich zugunsten der Reichsten und Mächtigsten ausbeuten zu lassen. Es ist Zeit, Savoyen zu entkolonialisieren und zu einem ausgewachsenen Partner im Rahmen der UNO und eines erneuerten Europas zu machen. Als die UNO 1945 gegründet wurde, umfaßte sie 50 Länder. Heute sind es 180. Diese Entwicklung muß sich fortsetzen. Savoyen ist dazu berufen, seine Stellung wiederzufinden.

 Glauben Sie, daß die Bildung einer Provisorischen Regierung ein positives Element war?

ABEILLE: Der anspruchsvolle Titel einer Provisorischen Regierung hat Eindruck gemacht, sowohl im Ausland als auch in Savoyen. Diese Bezeichnung markiert unseren Willen, wieder einen Staat zu gründen. Jede Verwechslung mit Regionalismus oder Autonomismus ist so ausgeschlossen.


 
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