© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/98 20. März 1998

 
 
Parteien: Christof Schliengensief, die NPD und der Bonner Stillstand
Aus Spaß wird Ernst
von Jutta Winkler

Seit Jahrzehnten schwirrt ein Dauer-"Thema" durch die Bonner Republik: die Massenarbeitslosigkeit; sein politischer Mobilisierungseffekt tendiert aber längst gegen Null. Das zweifellos gewaltige Problem wird nach bewährter Art "aufgegriffen", auf das Niveau des "Interessanten" heruntergebracht, rundumbeschwätzt, bis zum Überdruß präsentiert. Endloses Palavern, "Statements" von Zuständigen, die sich "um Lösung bemühen"; per "Veröffentlichung" trivialisiert die mediale Sympathisantenszene der Koalition aus CDU/CSU-FDP-Regierung und SPD/Grünen-Bundesrat das Skandalon der 5-plus-X-Millionen Arbeitslosen. So lange und so "erfolgreich", bis es im weißen Rauschen des Dauerräsonnierens ("Diskurs") verschwindet.

Doch neuerdings mehren sich die Zeichen des Widerstandes gegen die Dressur zum kohlfrommen Trott, gegen den Blindflug des Weiter-so. Gegen eine Immunisierung der politischen Wahrnehmung, die im "germanischen Phlegma" ihren leider "immer noch fruchtbaren Schoß" (Bert Brecht) findet. Am vergangenen Wochenende waren es zwei Vorkommnisse, die besonders aufhorchen ließen: nicht die albernen Ankettungsspielchen der gutdotierten Greenpeace-Stuntmen. Belangreicher waren andere Ereignisse, die sich simultan im thüringischen Saalfeld und in einem Berliner Theaterzelt zutrugen.

Die Jugendkultur der ehemaligen DDR unterscheidet sich von derjenigen im Alt-Bundesgebiet zunächst wohltuend durch ihre mentale Durchgelüftetheit. Sie macht ihr eigenes Ding, basierend auf einer nicht bloß geschichtlich durchweg solideren DDR-Schulbildung. Mag das Erscheinungsbild dieser jungen Bürger manchem nicht gefallen, so ist ihr Denken und Handeln nicht pauschal zu verdammen: hinter der von links inkriminierten Rede von "national-befreiten Zonen" steht auf den ersten Blick nichts als das Bestreben, die gerade im internationalen Vergleich stinknormal anmutenden Interessen der angestammten Bevölkerungsmehrheit zur Geltung zu bringen. Deren Nutzen (und eben nicht den von Fremden) "zu mehren", beeiden selbst unsere euroverbohrten Berufspolitiker. Die zunehmende westimportierte Entnationalisierung wird als Entsolidarisierung empfunden und teilweise mit Hilflosigkeit, teilweise mit krimineller Gewalt beantwortet. Warum ausgerechnet die NPD diesen Protest kanalisiert, sollten sich deutsche Politiker ernsthaft fragen. Denn vielen mitteldeutschen Jugendlichen erscheint es zunehmend fraglich, ob den Politikern tatsächlich am Abbau des arbeitslosen Millionenheeres gelegen ist. Bestseller rufen monatlich die postindustrielle, postmaterielle Gesellschaft aus; Tatsache aber ist und bleibt für die Jüngeren, daß auch im "globalisierten" Kapitalismus der Markt Lohnarbeitsplätze vergibt, von denen der größte Teil der Menschheit sein Leben fristen muß.

Wenn aber nun, wie bei uns, die Zahl der Suchenden die der Findenden strukturell bei weitem übertrifft? Wenn die "Ressource" Arbeit in Leuna plötzlich so knapp wird wie Wasser in der Wüste Gobi? Dann ist es Zeit, dem Treiben (oder Treibenlassen) jener Aussitzer zu widerstehen, die unsere soziale Umwelt auf den Hund bringen. Dieses Widerstehen hat selbstredend gewaltfrei zu sein.

Saalfeld erlebte am Wochenende den ordnungspolitischen Ausnahmezustand als demokratischen Ernstfall: Polizeikräfte hatten eine Veranstaltung der NPD zur miserablen Lage junger Arbeitsloser im Osten gegen ein paar Tausend aus dem "goldenen Westen" herangekarrte gewaltbereite "Antifaschisten" zu schützen. Und sie taten dies mit Bravour. Die Mobilisierung im deklassierten Bevölkerungsdrittel der "blühenden Landschaften" Kohls macht offenbar so gute Fortschritte, daß linke Reisekader zur Zerschlagung oppositioneller Ansätze gebraucht werden. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach verzweifelt: "Nazis demonstrieren, wo wir laufen wollen!" Sie und die ihren drücken offenbar gravierendere Sorgen als ein paar Millionen arbeitsloser Deutsche; in klammheimlicher Arbeitsteilung hält die rot/grüne Radaubrüder den Etablierten die "Apo ’98" vom Hals.

Das zweite herausragende Ereignis des Wochenendes fand in Berlin statt, im Prater der Berliner Volksbühne (siehe auch Bericht auf Seite 22). Christoph Schlingensief, Happeningverweser der Kulturnation, bat und (fast) alle kamen. Schlingensief bewältigte die Gründung seiner Initiative "Chance 2000 – Wahlkampfzirkus 98"; aus ihr soll, wenn sie mal groß ist, eine richtige, echte, wirkliche Partei werden. Denn mit dem Selberleben, Selbermachen hat es der Apothekersohn aus Oberhausen. Er will den Millionen, die "im Dunkeln stehen", zu ihrer eigenen politischen Stimme verhelfen. Ob sich dieser hehre Vorsatz mit Theaterjux und Kulturschickeria, der "Forschungsgruppe Selbstbehustung" oder gar einer Seilnummer der Zirkusfamilie Sperlich in die Realität umsetzen läßt, darf erheblich bezweifelt werden. Eher scheint es so, daß Schlingensief, anders als ein Gerhard Hauptmann, aus dem sich millionenfach abspielenden sozialen Drama, aus der Arbeitsgesellschaft verbannt zu sein, einen PR-Klamauk zur weiteren Steigerung seines künstlerischen Selbst saugt: ihm geht eben nichts über sich. Und arbeitslos wird so einer bestimmt nie.


 
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