© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   12/98 13. März 1998

 
 
Revolutionen: Mehr Mythos als Substans
Verraten und verkauft
von Lothar Höbelt

Im Jahr 1848 wurde kein König geköpft und keine Prinzessin ausgeweidet, nur wenige Grafen gelyncht und das, was von der Bauernbefreiung noch zu tun war, in bürokratischer Manier in die Wege geleitet. Das "pantomimische Gefecht" war nur im Fall einzelner Betriebsunfälle in tatsächliches Blutvergießen übergegangen. Kommende Generationen konnten aus dem "Sturmjahr" und dem "Völkerfrühling", dem Professorenparlament, das kein Gefühl für Blut und Eisen entwickelte, für ihre Bedürfnisse nichts übernehmen. Das wird weithin offenbar als Makel empfunden. Folgt man dieser Lesart, dann war das Jahr 1848 die "rivoluzione mancata", die versäumte Revolution der Deutschen.

Dann müßte man freilich auch dazusagen, was wir denn 1848 versäumt haben! Verpaßt haben wir die Abzweigung zur großdeutschen Variante der deutschen Einigung. Was die großdeutsche Republik – oder auch das 70-Millionen-Reich – für das europäische Mächtesystem bedeutet hätte, ist eine unsichere Rechnung. Eine Belastung oder eine Beruhigung? Was wäre wenn? Die Frage ist notwendig und notwendigerweise illegitim. Da die Reichweite unserer kontrafaktischen Argumente gering ist, stellt sie eine Hochrechnung auf Grund ungenügender Daten dar. Die "Ur-Katastrophe" des zwanzigsten Jahrhunderts, den 1. Weltkrieg, präventiv vermieden zu haben (samt ihren Folgewirkungen, bis hin zum Dioskurenpaar Stalin und Hitler), wäre sicherlich eine attraktive Vision. Ihr nachzugehen, würde uns allerdings in das uferlose Dickicht der "Kriegsschulddebatte" führen; wir wollen es für diesmal lieber bleiben lassen.

Worin mag das Versäumnis dann liegen? Vielleicht liegt das Mißverständnis darin, daß wir uns angewöhnt haben, Revolutionen nach ihren Idealen zu bewerten, nicht nach ihren Resultaten. Die Frage ist nicht nur, welchen Rang die jeweiligen Ideale in der Wertskala des Betrachters einnehmen. Bei den Idealen ist alles klar. Sich auf die Ideale von 1848 zu berufen, ist für Nationalliberale nahezu Pflicht; für Radikaldemokraten genauso logisch; auch für Katholiken, die sich gegen staatliche Bevormundung wehren oder den Ursprung ihrer Laienorganisationen feiern, und für Konservative, die sich gegen den aufgeklärten Absolutismus wenden, stellt es eine mögliche Option dar.

Als Revolution ist "1848" aber daraufhin zu untersuchen, ob es diesen Idealen zum Durchbruch verholfen hat. Revolutionen sind nicht durch ihre Ziele definiert, sondern durch die Wahl der Waffen. Unser kritischer Blick ist gefordert, ob den beschworenen Idealen mit dem eingeschlagenen Weg auch wirklich gedient war und ist.

Wenn heuer in verschiedenen Ländern die "Wegbereiter der Demokratie" gefeiert werden, ist das gut gemeint, doch als historische Bestandsaufnahme zumeist fragwürdig. Die Betreffenden waren Propheten, Verkünder der Demokratie, die für ihre Ideale kämpften und starben; dafür verdienen sie unseren Respekt. Ihre objektive Funktion war jedoch zumeist die von Agents provocateurs des Ancien régime. (Das gilt für die Gegenseite natürlich genauso: Dem General von Radowitz sagten wohlmeinende Freunde im Frühjahr 1848, er solle lieber den Mund halten, denn durch seine Wortmeldungen kompromittiere er bloß die vertretenen Ansichten.)

Diese Sicht der Dinge kann keinerlei Originalität für sich beanspruchen: Massimo d’Azeglio hat sie schon zwei Jahre vor dem März 1848 vorweggenommen, als er in seinen Betrachtungen über die Erhebung in der Romagna zu demselben Schluß kam, die Beteiligten verdienten als Märtyrer zu gelten, ihre Aktionen jedoch als Fehler. Die bürgerliche Revolution könne und müsse man abwarten, "mit den Händen in der Tasche". Kuranda schrieb im selben Jahr in den Grenzboten ähnliches. Man mag einwenden, das seien 1846 in beiden Fällen "saure Trauben" gewesen. Mag sein; recht hatten die beiden mit ihren Betrachtungen dennoch.

Es gibt nur zwei Typen von Revolutionen, gescheiterte und "verratene". Hinter letzterer verbirgt sich genau jene Diskrepanz von Intentionen und Resultaten. Irgendwo unterwegs, so stellt es sich für die Anhänger der reinen Lehre dar, sei ihre gutgemeinte Revolution auf Abwege geraten, gekapert, verkauft, verraten worden; worauf das Unheil seinen Lauf nahm. Unsere gescheiterte Revolution von 1848, die von ihren Auftraggebern desavouiert wurde, stellt da schon eine sehr auskömmliche Variante dar.

Revolutionen, so hat Marx gemeint, seien die Lokomotiven der Weltgeschichte. Lokomotiven – mehr noch als die Tanker, mit denen man unsere heutigen politischen Systeme verglichen hat – bewegen sich auf vorgezeichneten Geleisen. Die französische und die russische Revolution haben beide schon vorhandene Tendenzen noch schärfer ausgeprägt: Frankreich erreichte mit Napoleon das Stadium des aufgeklärten Absolutismus, das anderswo schon ein wenig früher eingesetzt hatte. Einen dauerhaften Vorsprung in punkto republikanische Freiheiten erreichte es erst 1870 dank preußischer Bajonette und Bismarckscher Bosheit.

Die Russische Revolution verwandelte ein autokratisches System mit traditionell schwach ausgeprägten Eigentumsvorstellungen in eines, das diese Züge ins Gigantomanische steigerte. "Modernisierung" brachte die Revolution zweifelsohne, kurzfristig zumindest; langfristig orten die Ökonomen (in beiden Fällen übrigens) eher Wachstumsverluste. Diesen zweifelhaften Gewinnen steht ein deutliches Verlustkonto gegenüber: von der Vendée bis zum Gulag. Unser Bedauern über das Ausbleiben der Großen Deutschen Revolution (in Großbuchstaben) vermag sich daher in Grenzen zu halten.

Nun war die eine große Revolution in Deutschland (und in Italien) auf Grund der föderalistischen Struktur ohnedies schwer vorstellbar. Wem das als Hinderungsgrund nicht ausreicht, der muß das Kompliment an die Eliten, die jeweils alten Eliten Deutschlands weitergeben, sie hätten eben so gut regiert – und wenn schon nicht so gut regiert, so doch so gut verwaltet – daß es in Deutschland nie zu einem solchen Ausbruch des Vulkans gekommen ist. Der vielbeschworene Untertanengeist ist da nur die andere Seite der Adaptionsfähigkeit, der Überlebensfähigkeit, der Kompetenz der Obrigkeit im langjährigen Schnitt.

"Modernisierung" hatte auch die deutsche Revolution von 1848 im Gefolge; nirgends deutlicher vielleicht als gerade in Österreich, von der Grundablöse bis zur Gewerbefreiheit. Was sie nicht brachte, war eine Abkehr vom Obrigkeitsstaat. Eine Abkehr vom Obrigkeitsstaat, das heißt: nicht eine Herrenschicht durch eine andere ersetzen oder eine Effizienzsteigerung der Bürokratie bewirken, sondern die Devise Jeffersons zu der seinen machen: "The best government is least government." Diese Perspektive ging verloren. Der Impuls gegen staatliche Bevormundung und bürokratische "Vielregiererei" verpuffte am Weg in den Interventions- und Wohlfahrtsstaat, und sei es auch der demokratisch legitimierte.

Das halbe Jahrhundert vor 1914 war dabei immer noch ein nach unseren heutigen Maßstäben idyllisch-liberales. Auch die Konservativen des späten neunzehnten Jahrhunderts waren Liberale, allerdings zum Teil contre cœur. Aber sie hatten kein Sensorium dafür, daß dieser Obrigkeitsstaat mit seiner dynastischen Fassade bei passender Gelegenheit auch einmal gegen sie instrumentalisiert werden konnte.

Das amerikanische Vorbild eines "Freistaates" war formell ein Ideal der Linken. Aber es war bezeichnend, daß konkrete Versatzstücke aus den USA in den Diskussionen sehr oft von Konservativen in die Debatte geworfen wurden. Das hatte seine innere Logik: Die Idee der Volkssouveränität war unitarisch, die Gewaltenteilung, der Föderalismus, die das amerikanische Modell ausmachen, im Vergleich dazu konservativ. Die Paulskirche hatte schon von ihrer Aufgabenstellung her mit der Konvention von Philadelphia mehr gemein als mit der Nationalversammlung in Paris. Und von ihrer Entstehung: Die Paulskirche und Philadelphia waren Versammlungen, die erst nach dem Bruch mit dem Ancien régime entstanden, ihn nicht erst herbeiführen mußten. Das Tabu der Paulskirche freilich war das Vereinbarungsprinzip, das in Philadelphia galt und in Paris nicht – das Vereinbarungsprinzip, das man sich nicht eingestehen wollte. Damit war die Enttäuschung vorprogrammiert.

Karl Theodor Welcker, die Autorität der deutschen Staatsrechtslehrer, hat das 1848 frühzeitig erkannt, als er den Begriff der Volkssouveränität aufs Korn nahm, der vielen seiner Kollegen als Kontrapunkt zum monarchischen Gottesgnadentum so teuer war: "Einseitige, ausschließliche Souveränität hat unser Unglück verschuldet. Es war der Absolutismus in der Gestalt der Regierungs-Souveränität, und zwar der einseitigen, ausschließlichen. Ausschließliche Volkssouveränität aber hat auch den Völkern keine Rosen gebracht, sie hat zwar Könige in Frankreich und England bluten machen, aber sie hat das siegreiche Volk in heillose Soldatenherrschaft und neue Knechtschaft gestürzt." Nur auf vertraglicher Basis könnten Einheit und Freiheit dauerhaft aufgerichtet werden.

Dafür, so steht zu befürchten, sind Revolutionen allerdings nicht das geeignete Instrumentarium. Auch im angelsächsischen Bereich sind 1688 in England und 1776 in Amerika nicht über Nacht parlamentarische Strukturen entstanden und Traditionen der Lokalverwaltung und Gemeindeautonomie gewachsen. Im Gegenteil: Sie waren vorher schon da und setzten sich gegen Neuerungen zur Wehr. Es waren "konservative Revolutionen", denen liberale Gemeinwesen ihre Entstehung verdanken.

Das amerikanische Vorbild, selbst wenn man es bejahte, bot freilich keine Betriebsanleitung, wie man dorthin gelangen sollte, wenn einem diese Grundausstattung nicht in die Wiege gelegt war. Wollte man dem Muster folgen, das im angelsächsischen Bereich mit Erfolg praktiziert worden war, dann mußten die Stände zuerst den Absolutismus überwinden, um von dieser sicheren Basis aus die Vereinheitlichung voranzutreiben und schließlich allmählich und unmerklich den Übergang zu einer immer breiteren Partizipation einzuleiten. Die Kombination aller drei Schritte war eine Überforderung des Paulskirchenprojekts. Zwar bestand anfangs die Hoffnung auf Synergieeffekte, aber letztendlich führte diese Überforderung dazu, daß ein Rückschlag auf einem Sektor alles andere mit sich riß.

Die Verbindung zwischen nationalen und liberalen Perspektiven in der Achtundvierziger Bewegung und darüber hinaus war keine zufällige: Es stimmte durchaus, daß der "civil society", dem staatsfreien und staatsfernen Sektor, ein wenig mehr am gemeinsamen deutschen Vaterland gelegen war als der Bürokratie, Diplomaten und Militärs, deren Perspektiven mit der einzelstaatlichen Souveränität verknüpft waren. Der Konflikt zwischen liberalen und nationalen Perspektiven war 1848 keiner der Ziele, sondern einer der Mittel. Die Einheit mußte in Frankfurt vereinbart werden, das war die Aufgabe der konstituierenden Nationalversammlung. Als Parlament mußte die Konstituante aber versagen, solange sie nicht über die Finanzhoheit verfügte. Die liberalen Garantien mußten den Regierungen der Einzelstaaten abgerungen werden. Der Grundrechtskatalog mußte ansonsten Theorie bleiben.

Die bürgerliche Revolution, die ab 1860 in Österreich folgte, war eine Revolution durch die Hintertür. Österreich stand nach seinen Niederlagen in Italien 1859 dort, wo es am 12. März 1848 schon einmal gestanden war. Diesmal ging es den Weg der langsamen und zähen Reform in der Auseinandersetzung mit den ständisch-liberalen Kräften. Die Ergebnisse waren bescheidener, als es den hochfliegenden Idealen von 1848 entsprach, aber dauerhafter. Das Budgetrecht der Parlamente trat in Kraft, nicht weil die Untertanen es so vehement forderten, sondern weil die Gläubiger sonst nicht zufriedenzustellen waren. Dieses Muster wird uns heutzutage bekannt vorkommen.

(…) "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!" war ein 1848 geläufiger Spruch, wie ihn auch der preußische König Friedrich Wilhelm IV. im Munde führte. Kam es einmal zu dieser Konfrontation, dann waren die Chancen groß, daß die ursprüngliche Frage vergessen wurde, die lautete: Was hilft gegen die Bürokratie? Gegen den Staat nicht als metaphysisches Wesen, als Ausdruck des Gottesgnadentums oder der Volkssouveränität, sondern gegen den Apparat, der sich selbst fortschreibt und wächst, beständig aus sich heraus zusätzliche Aufgaben schafft, die neue Kompetenzen erfordern, die wiederum neue Mittel erfordern, wodurch neue Probleme entstehen usw. usw. – ein selbstreferentielles System, das im Kreis geht und sich immer weiter von seinen angeblichen Auftraggebern entfernt.

Viele der Fragen, die 1848 gestellt wurden, haben seither ihre Lösung gefunden, in der einen oder anderen Form. Dieses Problem ist aktueller denn je. Wenn unsere Diagnose richtig ist, dann scheidet eine Revolution als Therapie allerdings aus. Nicht populärer Unmut, sondern finanzieller Kollaps bewirken die dauerhaften Veränderungen. Daran sollte kein Mangel sein.

Wenn der Griff zum Messer zu riskant ist, bietet sich als Chemotherapie für krebsartig wuchernde Bürokratien dafür vielleicht das an, was der Spiegel die "Globalisierungsfalle" nennt. Qui vivra, verra.


 
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