© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Amtliche Studie: Verelendung in Bezirken der Hauptstadt nimmt zu
Slums um Berlin Mitte
von Peter D. Krause

Die Schlagzeilen, die die Berichterstattung über die moderne, "prosperierende Metropole" Berlin in der Regel bestimmen, geben den dunklen Seiten nur selten Raum. Die Schattenseiten aber sind nun amtlich beleuchtet worden. Bundesregierung, Bundestag, Bundesverwaltung werden in einem Gebiet arbeiten, das von Stadtbezirken umgeben ist, in denen jeder fünfte arbeitslos und jeder dritte ein Ausländer, nicht selten muslimischen Glaubens, ist.

Wie der vor kurzem präsentierte "Sozialstrukturatlas der Stadt Berlin" belegt, sind Bezeichnungen wie die vom "Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich" (Diepgen) mittlerweile reiner Euphemismus. Die 571 Seiten starke Analyse offenbart, wovor Sozialwissenschaftler, aber auch einige Politiker lange gewarnt haben: Die deutsche Hauptstadt wird amerikanischen Großstädten immer ähnlicher. Ganze Stadtteile der 3-Millionen-Metropole verwahrlosen. Inzwischen leben beinahe 250.000 Menschen von Sozialhilfe, bei Jugendlichen ist der Anteil besonders hoch.

Grundlage der Einschätzung ist der "Sozialindex" der Stadt, eine Mischung aus gesundheitlichen und sozialen Merkmalen wie Arbeitslosigkeit, Einkommen, Anzahl der Sozialhilfeempfänger, Lebenserwartung und Gesundheit. Am schlechtesten schneiden in der Auswertung die Bezirke Wedding, Tiergarten und Kreuzberg ab. Da aber auch die östlichen Bezirke Friedrichshain und Prenzlauer Berg weit unten rangieren, legt sich ein Gürtel der Armut und des Verfalls um Berlins Mitte.

Besonders problematisch sind die innerstädischen Altbauquartiere. Die
Zahl der Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen ist hier binnen Jahresfrist um bis zu 25 Prozent gestiegen. Folge ist, daß steuerzahlende Bürger, besonders deutsche Familien mit Kindern, in die Außenbezirke oder das brandenburgische Umland ziehen.

Altbauquartiere verlieren die bürgerlichen Bewohner

Wer es sich leisten kann, flieht aus den Problembezirken. 1996 haben beispielsweise 1.491 Deutsche den grünen Innenstadtbezirk Tiergarten verlassen, im selben Zeitraum sind 1.497 Ausländer zugezogen. Die meisten Wegzüge Deutscher sind in den Bezirken Kreuzberg und Neukölln zu beobachten. Auch zu Wohlstand gekommene Türken wechseln mittlerweile aus den Problemgebieten. Berlins Innenstadt verliert ihre bürgerliche Einwohnerschicht. Von "sozialer Entmischung", vom "sozialen Umkippen" ganzer Wohnbezirke ist die Rede.

Nicht mehr nur Politiker rechts der SPD sprechen von "Verslumung" und – angesichts des hohen und wachsenden Ausländeranteils in einigen Wohngebieten – von "Ghettobildung". Und die Armut breitet sich aus. Die Verelendungstendenzen sind bereits in den Bezirken Schöneberg und Charlottenburg, selbst in Spandau zu spüren.

Den schlechtesten Sozialindex hat Kreuzberg. Der Bezirk mit seinen 153.000 Einwohnern ist abgeschlagen das Schlußlicht. Die Arbeitslosigkeit beträgt hier mehr als 30 Prozent. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist seit 1990 von 16.000 auf 27.000 Anfang 1998 gestiegen. Ein großer Teil des mittleren Gewerbes ist in den vergangenen Jahren abgewandert. Die Lebenserwartung der Männer liegt um vier Jahre niedriger als im Berliner Durchschnitt, sogar um mehr als 6,4 Jahre niedriger als im bürgerlichen Zehlendorf. Bei der vorzeitigen Sterblichkeit durch Leberzirrhose und Lungenkrebs liegt der Bezirk in der Berliner Statistik weit vorn.

Zwanzig Jahre hatte man Geld in den grün-alternativ geprägten Bezirk gepumpt, um das unruhige Gebiet zu befrieden und als Beispiel alternativ-multikultureller Lebensform zu präsentieren. Nun gilt der Bezirk als Verlierer der Einheit. Selbst "die Szene" ist an den Prenzlauer Berg oder nach Friedrichshain gezogen.

In den Rathäusern der Innenstadtbezirke herrscht Ratlosigkeit. Das Geld vom Bund, das den Verfall aufgehalten hatte, bleibt seit 1990 aus. Die seit langem angekündigte Senkung der Fehlbelegungsabgabe und Aufhebung der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau läßt auf sich warten. In viele Großsiedlungen ziehen unterdessen immer mehr Sozialhilfeempfänger, darunter viele Ausländer, denen der Staat die ganze Miete zahlt. Zugleich erhalten Normalverdiener nur schwer eine öffentliche Wohnung, weil ihr Gehalt die niedrigen Einkommensgrenzen überschreitet.


 
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