© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Enteignungen unter sowjetischer Besatzung: Ex-Staatschef der UdSSR widerspricht dem Bundeskanzler
Gorbatschow entlarvt Helmut Kohl
von Dieter Stein

Das Licht im Saal erlischt, Scheinwerfer richten sich auf den Eingang neben der Bühne. Lichtkegel erfassen inmitten eines Pulks von Fotografen einen älteren Herren mit silbernem Haarkranz und lichter Stirn – Michail Gorbatschow, einstiger Generalsekretär der KPdSU und Staatschef der Sowjetunion.

Gorbatschow war am vergangenen Sonntagnachmittag auf Einladung des "Göttinger Kreises – Studenten für den Rechtsstaat e. V." nach Berlin gekommen. Aufgrund der zahlreichen Anmeldungen von Interessenten hatte man von der "Schwangeren Auster" (Haus der Kulturen) ins Internationale Congress Centrum (ICC) ausweichen müssen. Doch selbst dort fanden im Großen Saal des ICC nur 2000 Menschen Platz – doppelt soviele hätten zuletzt kommen wollen, so die Göttinger Studenten.

Die Sprecherin des Göttinger Kreises, Beatrix von Oldenburg, bekennt in der Begrüßungansprache, ihr und ihren Kommilitonen – überwiegend Kinder enteigneter Familien – sei es eine "Verpflichtung, darauf zu achten, daß Recht immer vor Politik steht". In einem Urteil hatte das Bundesverfassungsgericht 1996 die Gültigkeit der Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 für rechtmäßig erklärt. Begründet wurde dies mit dem Hinweis der Bundesregierung, dies sei eine Vorbedingung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung gewesen. Da dies seit Jahren von den Enteigneten bestritten wird, der Bundesregierung in diesem Punkt vorgeworfen wird, die Unwahrheit zu sagen, hat man Gorbatschow als Kronzeugen zum Vortrag über "Die Sowjetunion und die Deutsche Einheit" in die Hauptstadt eingeladen und ihn gleichzeitig darum gebeten, auch zur Frage der Restitution Stellung zu nehmen. Frau von Oldenburg fordert, bevor sie das Wort an den Gast übergibt, eindringlich: "Wir brauchen eine Regierung, die sich an Werten orientiert und nicht nur an Macht und Einfluß. Und wir brauchen Gerichte, die Urteile fällen, die über jeden Zweifel politischer Einflußnahme erhaben sind." Ihre Begrüßung schloß sie mit den Worten, "wir freuen uns auf Ihre mutigen Worte".

Gorbatschows schlägt noch einmal den Bogen von der Zeit der Teilung 1949 über die Periode des Kalten Krieges bis zur Zeit von Glasnost und Perestroika, die schließlich zum Einsturz des Eisernen Vorhangs und dem Fall der Mauer führte. Gorbatschow bekräftigt, daß nach der Öffnung der Mauer für alle Beteiligten klar war, daß die Einheit Deutschlands bevorstünde. Die Regelung der inneren Angelegenheiten habe man aber in jeder Hinsicht als Sache der Deutschen betrachtet. Selbst in der Frage der Bündniszugehörigkeit, bei der die Sowjetunion die Neutralität begrüßt hätte, habe man schließlich die NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands akzeptiert.

Dann endlich kommt der ehemalige Kreml-Chef auf die Frage der Enteignungen zu sprechen. Die aus der ganzen Republik angereisten Zuhörer erwarten mit Spannung die von Frau Oldenburg erhofften mutigen Worte. Als "absurd" bezeichnet er Behauptungen, die Sowjetunion habe in dieser Frage auf höchster Ebene Bedingungen gestellt. Es habe auch keine schriftlichen oder mündlichen Geheimabkommen oder "Gentlemen Agreements" gegeben. Diese Aussagen, mit denen Gorbatschow der Bundesregierung widerspricht und den Bundeskanzler indirekt als Lügner überführt, werden mit minutenlangen, stehenden Ovationen quittiert.

Bereits einen Tag später reagiert der Sprecher des Bundeskanzleramtes, Minister Friedrich Bohl, und erklärt: "Die jüngsten Äußerungen des ehemaligen Staatschefs Michail Gorbatschow sind für die Bundesregierung unverständlich und nicht nachvollziehbar." Sie widersprächen früheren Äußerungen. Bohl weiter: "Die sowjetische Seite hat die Aufrechterhaltung der Enteignungen bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen zur Vorbedingung der deutschen Vereinigung gemacht." Darum halte die Bundesregierung auch weiterhin "an den Vereinbarungen zur Unumkehrbarkeit der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Bodenreform fest".

Kohl zur Seite sprang der ehemalige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow. In einem offenen Brief wirft er dem "sehr geehrten Herrn Gorbatschow" "offensichtliche Gedächtnisschwächen" vor. "Mit Ihren Aussagen mischen Sie sich in die inneren Angelegenheiten der BRD ein." Modrow will wissen, wessen Interessen Gorbatschow vertrete: "Die Bodenreform entspricht dem Interesse von Millionen Menschen, die in der DDR gelebt haben. Die Aushöhlung und Aufhebung der Ergebnisse der Bodenreform, die Sie betreiben, entspräche den Interessen einiger tausend Bürger der alten Bundesrepublik, für die es um Werte von vielen Milliarden DM geht."

Dieser gängigen Einschätzung, es ginge um wenige tausend Großgrundbesitzer, "Junker aus dem Westen" widerspricht der Hamburger Kaufmann Heiko Peters (selbst nicht Enteignungsopfer), der in der vergangenen Woche in einer dreiseitigen Anzeige im Spiegel (siehe auch Porträt von Heiko Peters in JF 10/98) darauf aufmerksam gemacht hat, daß von der Bodenreform vielmehr rund 40.000 Familien betroffen seien. Im Rahmen der Bodenreform seien "3 Millionen Hektar land- und forstwirtschaftliche Nutzfläche sowie mehr als 100.000 Fabriken, Wirtschafts- und Wohngebäude konfisziert" worden. Den Anteil Adeliger bezifferte er auf nur acht Prozent.

Informationen: Göttinger Kreis – Studenten für den Rechtsstaat e. V., PF 110349, 37048 Göttingen, Tel.: 0551/377 180, Internet: http://members.aol.com/goekreis/


 
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