© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Euro: Der Streit um das Erreichen der Maastricht-Kriterien spitzt sich zu
Der Siegestaumel wirkt inszeniert
von H. Benzler / T. Thaler

Vor einem "schleichenden Kaufkraftverlust" der Euro-Währung, der schneller sein wird als bei der D-Mark, hat Hamburgs Ex-Bürgermeister Henning Voscherau gewarnt. In der Bevölkerung werde es "eine Menge Frust geben", sagte der SPD-Politiker Anfang dieser Woche in einem Interview mit dem Münchner Nachrichtenmagazin Focus. Voscherau kritisierte zudem den von der Bundesregierung eingeschlagenen Kurs. Die Reihenfolge der Schritte auf dem Weg zur Europäischen Union sei "kleinkariert, kurzsichtig und mutlos". Sie gehe davon aus, daß es mit der politschen Union "jetzt nichts wird. Daher muß eine währungspolitische Ersatzhandlung her", erklärte Henning Voscherau.

In die gleiche Kerbe schlug auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Heinrich Lummer. "Die Währung darf nicht instrumentalisiert werden, um die politische Einheit Europas voranzutreiben", sagte er auf Anfrage der jungen freiheit. Europa müsse "von unten wachsen". Als Anhänger der "Krönungstheorie" plädierte Lummer dafür, erst eine politische Harmonisierung zu schaffen. "Die Währung kommt dann zum Schluß", bekräftigte der konservative Unionspolitiker seine Auffassung.

Startschuß für die Euro-Einführung ist gefallen

Unterdessen zeigte sich Bundeskanzler Helmut Kohl von solchen Einwänden unbeeindruckt. "Allen Zweiflern ist der Boden entzogen", jubilierte Kohl, und die Bonner Fraktionschefs von CDU/CSU und FDP, Wolfgang Schäuble und Hermann Otto Solms, sekundierten pflichtschuldigst, das Erreichen der Kriterien für die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion sei ein "sensationeller Erfolg". Finanzminister Waigel habe "großartige Arbeit geleistet", stimmte auch der Präsident der Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, in das Wortgeklingel der Euro-Befürworter ein.

Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden hatte vergangene Woche die für eine Teilnahme an der Europäischen Währungsunion (EWU) und gemäß des Maastrichter Vertrages entscheidenden Kriterien für die Einführung des Euro für die Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1997 bekanntgegeben.

Mit der allseits umjubelten 2,7-Prozent-Marke für das Haushaltsdefizit ist der Startschuß für den Euro gegeben und sind die Weichen für die Abschaffung der D-Mark gestellt. Daß das geforderte Kriterium eines Schuldenstands von 60 Prozent von den Deutschen nicht erreicht wurde (61,3 Prozent), war gerade mal eine Randnotiz wert. Daß weitere acht der insgesamt elf für das Euro-Rennen "qualifizierten" europäischen Staaten dieses Kriterium nicht schafften – mit Belgien (122,2 Prozent) als Träger der roten Laterne –, ging ebenfalls in dem inszenierten Siegestaumel unter. Daß die fünf Konvergenzkriterien (neben dem Haushaltdefizit und der Staatsverschuldung noch die Inflationsrate, die langfristigen Zinssätze und die Wechselkursstabilität) "nachhaltig" eingehalten werden sollen und hierfür eindeutige wirtschaftspolitische Maßnahmen erkennbar sein müssen, wurde ebenfalls nur nebenbei erwähnt und im Grunde als gegeben angenommen.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin meldete unterdessen Zweifel an. In einer Stellungnahme "zur Diskussion über das Finanzierungsdefizit des Staates im Jahre 1997" erklärte das Institut, es könne die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes nicht nachvollziehen. Das DIW kam in seinen Analysen zu einem Ergebnis von über 3 Prozent. Es verwies darauf, daß die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes nach wie vor zu einem "erheblichen Teil" auf Schätzungen beruhen und daß "punktgenaue" Berechnungen unmöglich seien. Wörtlich heißt es in der Erklärung: "Wer eine strenge Prüfung der Defizitberechnungen in anderen Staaten fordert, muß auch die besonderen Bemühungen Deutschlands, das Defizitziel zu unterschreiten, kritisch würdigen."

Differenzen zu den "Schätzungen" des Bundesamtes und des DIW beständen vor allem beim Staatsverbrauch, bei den laufenden Übertragungen sowie bei den Investitionsausgaben des Staates. Das Wirtschaftsinstitut wies darauf hin, daß etwa die Entwicklung der Ausgaben für militärische Beschaffungen ein untypisches Muster zeige: Im ersten Halbjahr 1997 waren die Ausgaben merklich ausgeweitet, im zweiten Halbjahr indes stark verkürzt worden. Ähnliches gelte für die öffentlichen Investitionen. Hinzu kamen überraschend hohe Grundstücksverkäufe des Bundeseisenbahnvermögens.

Die Beispiele belegen nach Ansicht des DIW, daß die Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht unter "normalen Umständen" zustande gekommen seien. Das Berliner Institut zweifelt deshalb an der Nachhaltigkeit der unternommenen "Anstrengungen" zur Erreichung des geringen Defizit-Wertes, sprich: an der Stabilität des Euro. Das DIW kritisierte überdies die Verdrängung des zentralen Kriteriums der Preisstabilität sowie der ordnungspolitischen Frage nach Regeln für eine funktionsfähige Währungsunion.

Defizit-Berechnungen sind oft schlichte Manipulation

Die in Italien eingeführte Euro-Steuer, die heute als Einnahme zählt, jedoch in zwei Jahren als Ausgabe wieder auftaucht, da sie an die italienischen Steuerzahler zurückerstattet werden soll, ist für Henning Voscherau ein Beispiel dafür, wie zweifelhaft die dauerhafte Einhaltung der Stabilitätskriterien einzuschätzen ist. Manche Euro-Kandidaten hätten ihre Defizite "statistisch kleingerechnet". Die italienische Euro-Steuer hält der SPD-Finanzexperte schlicht für "Manipulation".

Als Verstoß gegen den Maastricht-Vertrag wertete der Vorsitzende des Bundes Freier Bürger (BFB), Manfred Brunner, die vorgesehene Euro-Teilnahme Italiens und Belgiens. Auf einem Europa-Seminar der Universiät Odense (Dänemark) am vergangenen Wochenende vertrat der Jurist die Auffassung, daß Italien und Belgien mit ihrer seit Jahren gleichbleibenden Staatsverschuldung von rund 120 Prozent weder nach dem Maastricht-Vertrag noch nach dem vom ihm, Brunner, erzwungenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 an der Währungsunion teilnehmen könnten. Von einer langfristigen und nachhaltigen Übereinstimmung mit den Wirtschaftsdaten der anderen potentiellen Euro-Kandidaten könne nicht die Rede sein.

Brunner kündigte an, daß die Teilnahme Italiens und Belgiens an der Europäischen Währungsunion im Mittelpunkt seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Euro stehen werde. Der BFB-Chef will die Beschwerde in Karlsruhe an dem Tag einreichen, an dem der Bundestag seinen endgültigen Beschluß über die deutsche Teilnahme an der Währungsunion fällt; nach dem bisherigen Fahrplan ist das der 24. April.

Für den Vorsitzenden der Republikaner, Rolf Schlierer, ist die Erfüllung der Konvergenzkriterien vor allem "das Ergebnis dreister Haushaltsmanipulationen und eines nur mühsam vertuschten Statistikschwindels". Auch Schlierer kündigte eine Klage gegen die Einführung des Euro an.

Kritische Stimmen zur Währungsunion sind bei dem medienwirksam inszenierten Euro-Jubel des Bonner Establishments jedoch nur vereinzelt und schwach zu hören. Wilhelm Hankel, Professor für Währungspolitik in Frankfurt und einer der vier Wissenschaftler, die vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Einführung des Euro klagen, stellte fest, Deutschland sei "ein Weltmeister im Verstecken von Staatsausgaben". So seien die Schulden der Kreditanstalt für Wiederaufbau nicht als Staatsschulden aufgeführt, sondern dem Sektor der privaten Wirtschaft zugerechnet worden.

Thomas Mayer von der Investmentbank Goldman Sachs bemerkte, daß nur mit "übergeordneter Hilfe das Wunder von Maastricht" erreicht werden konnte. Gerhard Grebe von der Bank Julius Bär ergänzte, daß jeder Staat irgendeine Kosmetik betrieben habe, um die Kriterien zu erfüllen. Selbst ein namhaftes Wirtschaftsinstitut wie das der SPD nahestehende Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin meldete sich nach Bekanntgabe der Daten zu Wort, daß insbesondere die Neuverschuldung von 2,7 Prozent für Deutschland nicht nachvollziehbar sei. Nach Berechnung des DIW hätte vielmehr eine Quote von 3,3 Prozent ermittelt werden müssen.

Der Euro-Zug ist kaum mehr aufzuhalten

Ungeachtet dieser Gegenstimmen ist jedoch nach derzeitigem Ermessen der Euro-Zug nicht mehr aufzuhalten. Die nächsten "Formalhürden" werden unter anderem sein: am 25. März die Veröffentlichung der getrennten Prüfungsberichte der EU-Kommission und des EWI (Europäisches Währungsinstitut) zu den nationalen Wirtschaftsdaten, am 27. März die Überreichung der Einschätzung der Bundesbank zu den Währungskriterien an die Bundesregierung.

Am 1. Mai wollen die EU-Finanzminister dann ihr Votum über die Mitglieder des "Euro-Clubs" abgeben, und am 2. Mai soll die endgültige Bekanntgabe der Euro-Mitglieder durch die Staats- und Regierungschefs der EU erfolgen. Spätestens dann steht auch der Präsident der Europäischen Zentralbank fest. Am 3. Mai werden die bilateralen Wechselkurse der Teilnehmerländer zueinander bestimmt, die ab dem 1. Januar 1999 gelten werden. Ab 1. Januar 2002 sollen dann die neuen Euro-Münzen und Euro-Geldscheine ausgegeben werden. Spätestens zum 1. Juli 2002 wird der Euro zur alleinigen Währung und die D-Mark abgeschafft.

Welche Folgen dieses mit sich bringen wird, kann zur Zeit nur vermutet werden. Sinnigerweise werden schon jetzt Botschaften verkündet, wonach man sich nicht zuviel vom Euro versprechen solle. Das Problem der Arbeitslosigkeit beispielsweise werde durch den Euro, so die Befürworter der Einheitswährung, nicht wesentlich entschärft. Ob es aufgrund der zu vermutenden hohen Transferleistungen gerade in Deutschland sogar gesteigert werde, wie dies die Euro-Gegner vorhersagen, bleibt eine nicht widerlegte Gefahr. Besonders bei der in der deutschen Bevölkerung hohen Ablehnungsquote zum Euro (um 70 Prozent) werden neben wirtschaftlichen auch politische Konsequenzen einer Währungsumstellung zu beobachten sein. Ob sich die politisch-wirtschaftlichen Protagonisten dann immer noch im Euro-Fieber befinden werden, darf bezweifelt werden.


 
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