© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Kolumne
Späte Warnung
von Klaus Motschmann

Anfang Februar veröffentlichten 155 Professoren der Wirtschaftswissenschaft eine vielbeachtete Erklärung, in der sie schwerwiegende Bedenken gegen die Einführung des Euro zum geplanten Zeitpunkt Anfang 1999 äußern. Fast auf den Tag genau haben sich fast genausoviele Theologieprofessoren, nämlich 157, in einem von der Öffentlichkeit weniger beachteten, jedoch nicht minder bedeutsamen Votum gegen eine "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" ausgesprochen, die vom Vatikan und dem Lutherischen Weltbund nach langen Verhandlungen ausgearbeitet worden ist. Mit ihr soll der wesentliche Grund der Trennung von katholischer und evangelischer Kirche beseitigt und damit eine Annäherung nach 500 Jahren der Trennung entscheidend gefördert werden. Die Duplizität dieser Ereignisse professoralen Engagements läßt bei allen Unterschieden im einzelnen Ähnlichkeiten erkennen, die nicht rein zufällig sind: Beide Erklärungen kommen viel zu spät, um noch nennenswerten Einfluß auf den Gang der politischen Urteils- und Willensbildung nehmen zu können. Die Entscheidung für die Einführung des Euro wird im Mai in Maastricht gefällt; die Entscheidungsorgane der lutherischen Kirchen sollen die vom lutherischen Weltbund erwartete Zustimmung ebenfalls imMai abgeben. Zeit genug für frühere Stellungnahmen war vorhanden. Weshalb also erst so spät? Eine Erklärung dafür findet sich bei Hegel in seinem einprägsamen Bild von der "Eule der Minerva", die erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt: "Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat." Damit stellt sich wieder einmal die Frage nach der Verantwortung des Intellektuellen in der geistigen und politischen Auseinandersetzung. Er sollte nicht erst wie die Eule in der Dämmerung seinen (Höhen-)Flug beginnen, sondern genau im Gegenteil vor aufziehenden Gefahren warnen. Wenn schon nicht als ein "Regenpfeifer", wie sich Sören Kierkegaard verstand, der heraufziehende Unwetter anzeigt, dann doch wenigstens wie die Gänse (um im ornithologischen Bild zu bleiben), die das römische Kapitol durch ihr Geschnatter gerettet haben, weil sie die einschlafenden Wachen geweckt haben. Wer weckt unsere "Wachen", wer gibt ihnen einen "Ruck"? Wie auch immer – durch "Geschnatter" oder durch akademisch ausgefeilte Voten: Es muß endlich geschehen!


 
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