© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Pankraz, Meret Becker und das Urteil im Holzbein

Mit Jenaer Studenten besuchte Pankraz eine auf Punk und "Einstürzende Neubauten" getrimmte Brecht-Revue von Meret Becker und Nina Hagen im Erfurter Kaisersaal. Ein lächerlicher, nachgereichter, durch und durch provinzieller Abend! Aber immerhin gab er eine Erinnerung frei, die vielleicht erzählt zu werden lohnt.

Mit schniefender Insistenz nämlich wimmerte Meret Becker das Lied von der Mutter Beimlein, jener Nutte mit dem Holzbein, in dessen Innerem sie ihren Hausschlüssel aufbewahrt. O Gott, wie originell! Die Studenten waren sehr angetan. Pankraz aber mußte dabei an ein anderes, keineswegs literarisches, sondern höchst reales Holzbein denken, das ihm einst in der Kommunistenzeit im Zuchthaus von Torgau über den Weg gelaufen war.

Die SED unterhielt dort eine sogenannte "Scharaschka", ein Technikerkommando, in dem technisch und/ oder übersetzerisch begabte Polithäftlinge Sklavenarbeit für das Carl-Zeiss-Werk in Jena zu verrichten hatten. Es wurde in zwei Schichten gearbeitet; während die eine Schicht rabottete, schlief die andere, und jeder schlafende Schichtarbeiter mußte sein "Päckchen" vor die Zellentür gestellt haben: seinen Zellenschemel mit säuberlich gefalteter Hose und säuberlich gefalteter Jacke darauf (geschlafen wurde in Unterhose). Einer der Häftlinge jedoch hatte ein Holzbein, und auch dieses mußte vor die Zellentür gestellt werden.

Pankraz hat noch das groteske Bild vor Augen, das sich der aus der Arbeitsbaracke "heimkehrenden" Schicht darbot: der Zuchthausgang mit der langen, schnurgeraden Reihe der schweigenden Päckchen, und mitten dazwischen das rosige, im Scheinwerferlicht gleißende Holzbein. Es kam auch vor, daß die Wachmannschaften die Päckchen auf Kassiber "gefilzt" hatten, und dann war der Anblick noch unheimlicher: eine Reihe niedergeholter, wüst derangierter Päckchen – und das Holzbein in einsamer Disziplin aufragend, Symbol preußischer Ordnungsliebe noch im Chaos.

Indes, es kam der Tag, da auch das Holzbein umgekippt lag, und wilde Gerüchte zogen wie Brandgeruch von Zelle zu Zelle. Der Besitzer des Holzbeins, ein Ingenieur aus Erfurt, war nicht mehr da, ohne Bein in den Arrestbunker abgeführt. Was war geschehen?

Allmählich sickerte die Wahrheit durch. Einer der Bewacher war demnach plötzlich auf den Gedanken gekommen, diesmal auch das Holzbein zu filzen, dessen Inneres nach Konterbande abzutasten, und er war tatsächlich fündig geworden. Das Urteil des Ingenieurs, das ihn zu soundsoviel Jahren wegen Boykotthetze verdonnerte, fand sich mit Tesafilm an die Innenwand der Prothese gepinnt. Eine unerhörte Schandtat war ans Licht gebracht.

Die Sache verhielt sich folgendermaßen: Die SED brachte damals zwar unzählige DDR-Bewohner wegen politischer Vergehen ins Zuchthaus, aber eine schriftliche Ausfertigung des gegen sie ergangenen Urteils erhielten die Häftlinge nicht. Solche schriftlichen Urteile, so kalkulierten die Machthaber ganz richtig, waren im Grunde ja Lobeshymnen auf die Verurteilten, Qualitäts-Zertifikate, die ihnen klaren Blick, freiheitliche Gesinnung, Mut und Zivilcourage bescheinigten. Es waren, genau wie bei Mutter Beimlein, Hausschlüssel, die ihnen (nach eventuell wiedererrungener Freiheit) privilegierten Zugang zur Fronde der anständigen Menschen eröffnen konnten, bürgerliches Ansehen, bei gelungener Flucht in den Westen oder Loskauf sogar Haftentschädigung und sonstige Wiedergutmachung.

Der Erfurter Ingenieur hatte es nach seiner Verurteilung irgendwie geschafft, sich eine Abschrift oder sogar das Original seines Urteils anzueignen, vielleicht hatte ihm sein Rechtsanwalt das Papier in einem unbewachten Moment zugesteckt; wie er es genau gemacht hat, hat Pankraz nie erfahren. Jedenfalls hatte der Mann das Dokument all die Haftjahre hindurch erfolgreich durch sämtliche Filzungen gebracht, eben seines rosigen Holzbeins wegen, eines ingeniösen Verstecks, das kein Filzer – bis auf den einen! – anzufassen und zu untersuchen wagte.

Warum eigentlich? So fragten nach Vorstellungsschluß die Studenten, nachdem ihnen Pankraz das Torgauer Abenteuer erzählt hatte. Es kam zu einer Diskussion, deren Ergebnis etwa lautete: So ein Ding flößt naiven und groben Gemütern ein heimliches Grauen ein. Diese Typen finden überhaupt nichts dabei, die Häftlinge bei Filzungen bis auf den Grund zu demütigen und ihnen auf der Suche nach Kassibern im After herumzustochern. Aber vor unheimlich glänzenden Prothesen haben sie großen Respekt. Das lebendige Fleisch gilt ihnen nichts, vor künstlerisch nachgebildetem Fleisch nehmen sie Haltung an. Es sind umgekehrte Pygmalions.

Auch die vielen Zuschauer und Zuhörer der Meret-Becker-Nina-Hagen-Show im Kaisersaal, die so begeistert Beifall spendeten, sind solche neuartigen Pygmalions, meinte ein Student. Von dem wirklichen Brecht und seinen Klassenkampf-Songs wenden sie sich gelangweilt ab. Doch wenn der Alexander Hacke von den "Einstürzenden Neubauten" mit einer Choreographie kommt, die aus Brecht einen Zombie und aus seinen Songs ein grelles Gekreische macht, dann geht die Post ab und bleibt kein Auge trocken.

Ist Brecht hier nun, fragte sehr gelahrt eine Studentin, "zur Kenntlichkeit" oder "zur Unkenntlichkeit" verändert? Darüber konnte man sich nicht einigen. "Als Zombie und Witzfigur wollte er bestimmt nicht in die Literatur eingehen", sagten die einen. Die anderen sagten: "Nur wer zur Witzfigur gemacht werden kann, ist ein echter Klassiker." Pankraz aber dachte an die Tage von Torgau und formulierte ganz altmodisch: "Wer den Filzern von damals zugearbeitet hat, der ist entweder ein Moralkrüppel oder ein Intelligenzkrüppel, auf jeden Fall ist er ein Zombie."


 
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