© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/98 27. Februar 1998

 
 
Letztes Geleit: Wie das Schwäbische Wilflingen seinen berühmten Einwohner, den 102jährigen Ernst Jünger, verabschiedet
Ein heiterer und privater Abschied vom letzten Krieger
von Dieter Stein

Wir nehmen Abschied von einem großen Mann mit einem abenteuerlichen Herzen". Mit diesen Worten eröffnete Franz Schenk Freiherr von Stauffenberg den Trauergottesdienst für Ernst Jünger in der Schloßkirche von Wilflingen. Stauffenberg, von den Wilflingern kurz "Baron" genannt, hatte Ernst Jünger 47 Jahre lang Quartier gegeben in der gegenüber dem Stauffenbergschen Schloß gelegenen Oberförsterei.

Dafür, daß schließlich erstaunlich viele Ernst Jünger anläßlich seines Todes doch einen "Großen" genannt haben, war der Abschied, das letzte Geleit, beinahe privat, intim geworden. Die Familie Jünger hatte auf das Angebot eines Staatsbegräbnisses durch das Land Baden-Württemberg verzichtet. Dies war ein Segen. So hatte sich lediglich als Vertreter des Bundeskanzlers der Staatsminister Anton Pfeifer mit einem Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes in das schwäbische Dorf fliegen lassen, und Ministerpräsident Erwin Teufel erwies dem Dichter die Ehre, indem er ihn pries als "großen Sohn unseres Landes, der ein ganzes Jahrhundert durchschritten und ins Wort gebracht hat".

"Es ist ein wunderlicher Vorgang, wie die Phantasie gleich einem Fieber, dessen Keime von weither getrieben werden, von unserem Leben Besitz ergreift und immer tiefer und glühender sich in ihm einnistet." Damit hatte alles begonnen bei Jünger, als er, sechzehnjährig, sich entschloß, zur französischen Fremdenlegion auszureißen. Die Reise, bei der er seinem abenteuerlichen Herzen seinen ersten Ausflug gönnte, beschrieb er später in der Erzählung "Afrikanische Spiele".

Ein von krachendem Donner begleitetes Frühlingsgewitter mit Hagel und Graupelschauern hätte die passende Kulisse zur Beerdigung des Jünger der zwanziger Jahre abgegeben. "Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg mußte uns es ja bringen, das Große, Starke, Feierliche." ("In Stahlgewittern")

Die Sehnsucht, die Jünger zur Fremdenlegion getrieben hatte, zog ihn 1914 auch mit einer Leidenschaft in den Ersten Weltkrieg, die heute für viele Menschen schwer nachvollziehbar ist. Er teilte dieses Gefühl aber mit einer Generation, die an der bürgerlichen Welt des wilhelminischen Reiches zu erstickten drohte. Die Zetrümmerung dieser bürgerlichen Welt durch die kriegerische Revolution der Technik im Ersten Weltkrieg zeichnete Jünger in seinen Kriegstagebüchern nach.

So tauchte denn eine strahlende Sonne Wilflingen in heiteres, warmes Licht und begleitete den Toten auf die letzte, große Fahrt. Nur wenige hatten noch am Vormittag die Bibliothek des Stauffenbergschen Schlosses betreten, in der man den Sarg des Toten aufgestellt hatte. Im Kondolenzbuch hatten sich einige hundert Menschen eingetragen, darunter viele Bürger des Ortes und angrenzender Gemeinden. Der Ansturm von Freunden und Feinden des "Anarchen" war ausgeblieben.

Die Zeit zur Totenmesse überbrückten die frühzeitig Angereisten im örtlichen Gasthof, dem "Löwen", wo, so sagt man, Jünger gerne beim Schoppen gesessen und eine Schlachtplatte gegessen haben soll. In der rustikal eingerichteten Schenke lassen sich alsbald Johannes Willms (Süddeutsche Zeitung) und Rolf Hochhuth grußlos an unterschiedlichen Tischen mit Begleitung nieder. Kurz darauf betritt einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen, Frank Schirrmacher, den Raum, passiert ebenfalls grußlos Karlheinz Weißmann und setzt sich, wie es seine gewohnte Art ist, aufs "Schnäpperle" (schwäbisch für Kante) des Stuhles am Tisch von Willms, um sogleich seinen Kopf mit dem des Vertreters des Münchner Konkurrenz-Feuilletons angeregt zusammenzustecken. Günter Figal, Professor für Philosophie, der zusammen mit Heimo Schwilk 1995 zur Feier des 100. Geburtstages Jüngers eine Festschrift herausgegeben hatte, mit Beiträgen von Botho Strauss, Heiner Müller, Peter Sloterdijk, Hans-Peter Schwarz, Robert Spaemann, Rüdiger Safranski und Karlheinz Weißmann, setzt sich mit seiner Frau an den Nachbartisch. Die Fastnachtsdekoration des Schankraumes, Kaffeeduft und Apfelkuchen lassen dunkle Gedanken verfliegen und eine familiäre Stimmung kommt auf. Während Hochhuth erhitzt sein Sakko auszieht, betritt Feldarzt Winkler (mit Namensschild) den Raum. Die steife Schirmmütze sitzt sehr gerade und wirkt zu groß; unsicher sucht er sich einen Platz. Ihm folgt Stephan Speicher (Berliner Zeitung, vormals FAZ), den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, dessen Augen suchend umherblicken. Erschrocken sieht er den qualmenden Schirrmacher, der ihm den Rücken zudreht, dann prallt Speichers Blick an der Gestalt Weißmanns ab, worauf er hastig die Höhle des "Löwen" wieder verläßt.

Auf den Pfaden der "Annäherungen" betritt schließlich ein junges Pärchen, Anfang Zwanzig, mutmaßlich zur Drogen-und-Rausch-Fraktion zählend, das Lokal. Der große Student mit langen, blonden Haaren stellt sich und seine schüchterne Begleiterin in pinkfarbener Batikbluse als Mitarbeiter einer Berliner Zeitschrift Filmzeit vor. Später werfen auch sie beide eine Schaufel Erde auf den Sarg Jüngers und verharren lange vor dem Grab.

Eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes hat sich bereits eine große Traube wartender Menschen vor dem Tor des Kirchhofes gebildet, die einen der wenigen nicht reservierten Plätze zu erlangen hoffen. Später wird die Nachrichtenagentur dpa vermelden, es seien 2000 Besucher zur Beisetzung erschienen, was viele Zeitungen brav abschreiben. Es sind rund 600 gewesen. Sicher die Hälfte Freunde, Verwandte und Gäste aus der Umgebung. Der Rest: Leser, Verehrer, geistige Weggefährten des Verstorbenen. Außer Rolf Hochhuth (Vicco von Bülow alias Loriot soll gesichtet worden sein) läßt sich kein prominenter Schriftsteller oder Künstler blicken, und außer Michael Klett auch kein namhafter Buchverleger. Mit den Publizisten Armin Mohler, von 1949 bis 1953 Sekretär Ernst Jüngers, Karheinz Weißmann und Heimo Schwilk sind Autoren der rechtsintellektuellen Szene vertreten. Außer dem Ministerpräsidenten kein bekannter Vertreter der Politik. Nicht einmal die im Stuttgarter Landtag vertretenen Parteien waren durch einen Abgesandten vertreten. Auch nicht die Republikaner. Daß das offizielle Deutschland sich nicht hat sehen lassen, war wohltuend. Es ist tröstend, daß sich der preußische Anarchen auch auf die alten Tage nicht noch einwickeln ließ. Trotz der Umarmungsversuche des Oggersheimer Riesen blieb Wilflinger Waldgänger unerreichbar für den politischen Betrieb.Nach dem Besuch des Bundeskanzlers schrieb Jünger dem Politiker den bezeichnenden Satz als Widmung ins Buch: "Zur Erinnerung an eine ungefährliche Begegnung." Jünger ließ sich auch nie mehr auf politische Abenteuer ein. Parteipolitischem Radikalismus im Rahmen des liberalen Systems hatte er im "Arbeiter" schon 1932 eine vernichtende Abfuhr erteilt: "Die Gesellschaft erneuert sich durch Scheinangriffe auf sich selbst; ihr unbestimmter Charakter oder vielmehr ihre Charakterlosigkeit bringt es mit sich, daß sie auch ihre schärfste Selbstverneinung noch in sich aufzunehmen vermag. (…) Dies hat dem Worte radikal seinen unausstehlich bürgerlichen Beigeschmack verliehen, und dies macht, nebenbei gesagt, jenen Radikalismus an sich zu einem einträglichen Geschäft, aus dem eine Generation von Politikern, eine Generation von Artisten nach der anderen ihre einzige Nahrung zog. Dies ist die letzte Ausflucht der Dummheit, der Frechheit und der hoffnungslosen Unfähigkeit, daß sie auf den Bauernfang geht, indem sie sich mit den Pfauenfedern einer nichts als radikalen Gesinnung schmückt." Trotz der Verleihung des Goethe-Preises durch die Stadt Frankfurt 1982 stand Jünger nie in der Gefahr, vom kulturellen Betrieb der BRD absorbiert zu werden.

Die Familie Heidegger vertrat Enkel Arnulf, Anwalt aus Konstanz. Ein gutes Dutzend Verbindungsstudenten mit angelegten Farben und Mützen, gut 15 Soldaten, meist Reservisten, sind zu sehen, eine Handvoll Bündische in Kluft. Von offizieller Seite erkennt man zwei Generäle und als Freund der Familie weiterhin den Standortkommandanten von Berlin, General Hans Helmut Speidel. Manche hatten den Weg nach Wilflingen aus Ehrfurcht gescheut oder aus Ignoranz darauf verzichtet. Die stickige Umarmung durch das Bonner Jetset blieb allen erspart.

Kaum 200 Gäste finden sitzend in der barocken Pfarrkirche St. Nepomuk Platz, die übrigen drängen sich im Mittelgang und auf dem Kirchhof, auf den die Ansprachen von Lautsprechern übertragen wurden. Warum für Journalisten vier Bankreihen reserviert wurden, bleibt rätselhaft. Die Vertreter der übrigen schreibenden Zunft machten es sich merklich gemütlich, plauderten angeregt und waren auch durch die einsetzende Orgelmusik kaum zu beruhigen.

Jünger hat zeitlebens Abstand zur Kirche gehalten. Das Göttliche fand er in der Natur, im Chaos, aus dem Ordnung erwuchs. Die Götter unterliegen den Titanen, aber diese würden wieder von neuen Göttern besiegt, glaubte Jünger. Zum Ende seines Lebens hatte sich Jünger, der als Protestant geboren wurde, mit dem Katholizismus der Wilflinger Region angefreundet. Der Gottesdienst zelebriert den naiven, innigen Charakter der kräftigen römischen Kirche. "Und wieder bewährte sich die Bibel als das Buch der Bücher, prophetisch auch für unsere Zeit. Doch nicht nur prophetisch, sondern auch tröstend in einem Maße und als solches das Handbuch alles Wissens, das wiederum unzählige durch die Schreckenswelt begleitete." ("Strahlungen").

Jüngers 25jährige Enkelin Irina singt das "Ave Maria" Charles Gounods. Vertreter der umliegenden Bürgerwehren in schmucken, bunten, durcheinandergewürfelten Uniformen des 18. und 19. Jahrhunderts stehen links und rechts des vor dem Altar aufgestellten Sarges. Die stolzen Schwaben halten die Truppenfahnen ihrer Vereine vor sich, die sie auf militärisches Kommando senken. Der einfache Sarg ist mit der Schleife der "Ritterschaft des Ordens Pour le mérite" bedeckt. Jünger war der letzte Träger des von Friedrich dem Großen gestifteten höchsten preußischen Militär-Ordens. Mit Jüngers Tod erlosch diese Gemeinschaft.

Im Anschluß an den Gottesdienst ergreifen der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel, Staatsminister Pfeifer, der Biberacher Landrat Peter Schneider, der Langenenslinger Bürgermeister Werner Gebele und der Wilflinger Ortsvorsteher (Wilflingen ist Teil der Gemeinde Langenenslingen) das Wort. Teufel spricht vom "Jahrhundertmenschen", rollt erneut die "Stahlgewitter"-Problematik auf und versucht zu beweisen, daß dies ein Anti-Kriegsbuch sei. Ein Gottesdienstbesucher kommentiert halblaut: "Schließlich war die Ilias auch kriegsverherrlichend!"

Bei Anton Pfeifer, dem Vertreter des Bundeskanzlers, werden die Trauergäste unruhig, Füßescharren, der Herausgeber der FAZ eilt nach draußen. Wortfetzen suchen Ohren, "Europa" verirrt sich in das eine oder andere und entflieht. Über den Rest legten unisono alle Berichterstatter den Mantel des Schweigens, so sehr sie auch vieles in der Bewertung von Jünger trennte. Die Vertreter der föderalen Ordnung Deutschlands würdigen Jünger in rührender Weise – und steuerten unbekannte Anekdoten über den Denker bei: So soll Jünger bis zuletzt höchstselbst die Post über einen Hügel ins zwei Kilometer entfernte Langenenslingen transportiert haben, um sie dort ordnungsgemäß aufzugeben. Im Anschluß daran soll er des öfteren beim Verspeisen eines Eises auf einer Bank gegenüber der Post sitzend gesichtet worden sein. Das Angebot von Bürgern, ihn wieder nach Wilflingen zurückzukutschieren, habe er – selbst bei schlechtestem Wetter – stets ausgeschlagen.

Sprachlich dem Rang des Dichters würdig war die leise Rede seines Verlegers Michael Klett, bei der atemlose Stille eintrat, als er von privaten Seiten Jüngers sprach, die wenige kannten. Daß Jünger in seiner Lebensmitte in tiefe Melancholie verfallen war, sich morgens korrekt kleidete, den Tag aber, in einem Sessel sitzend und trübe vor sich hinsinnierend hinter sich brachte. Daß er diese Depression durch die – bis zuletzt durchgehaltene – strenge Gliederung und Ordnung des Tages und harte Wanderungen überwand. "Im höchsten Ordnungsgange werden kosmische und irdische Strahlen so verwoben, daß sinnvolle Muster aufleuchten. Das ist das Zeichen dafür, daß das Leben der Menschen, das Leben des Volkes gelungen ist." ("Strahlungen") Klett gestand, in Jünger dem "Vater seiner Phantasie" begegnet zu sein. "Ein Jenseits ohne Falter und Blumen konnte sich Jünger nicht vorstellen", meinte Klett, der beschrieb, wie die Aufmerksamkeit Jüngers, der bis zuletzt häufig abwesend und in sich gekehrt wirkte, durch Tiere und vor allem Insekten schlagartig gewonnen werden konnte.

Der Sarg Jüngers verläßt die Kirche getragen von den Männern der Bürgerwehren, durch die dicht gedrängt stehenden Menschen erreicht er die leichte Lafette, die mit vier Pferden bespannt ist. Nur die Kommandos der Bürgerwehr, das Schnauben der Pferde, Trappeln der Hufe und Knirschen der Füße auf dem Kies ist zu hören. Die schwarzgekleidete Trauergemeinde, an ihrer Spitze die Witwe Liselotte, folgt der Lafette, als die Blasmusik den Trauermarsch anspielt. Worte werden nur geflüstert.

Die Straße ist von Dorfbewohnern gesäumt, dazwischen eilen Fotografen und Kameraleute umher. Der Zug bewegt sich vorbei am Stauffenbergschen Schloß, der Oberförsterei, dem Gasthof "Löwen" zum fünfhundert Meter entfernten Friedhof. Dort nehmen ("Stillgestanden!") die Bürgerwehren Aufstellung im Spalier, durch das die Gäste hinter dem Sarg den Friedhof betreten. Auf den Feldwegen stehen einige Polizeifahrzeuge, mit Störern konnte gerechnet werden. Vor dem Spalier haben sich auf eigene Faust noch drei Haudegen des Zweiten Weltkriegs mit Ritterkreuz postiert.

Letzte Gebete am Grab. Laut und kräftig sprechen die Trauergäste das Vaterunser. Anschließend spielt die Blaskapelle die Melodie "Ich hatt’ einen Kameraden". Auch den Hartgesottenen geht der alte Klang nahe. Während die Sonne den Horizont der schwäbischen Alb berührt, senken die Männer den Sarg unter dem ohrenbetäubenden Krachen eines Saluts in die Erde. Es ist schon dunkel, als sich der letzte vom Grab verabschiedet.

Jüngers Werk ist ein einziger Appell, das Auge für das Schöne, die Ordnung, die Schöpfung zu bewahren – nicht aber Zustände zu konservieren, die sich auflösen. "Es gibt keinen Ausweg, kein Seitwärts und Rückwärts; es gilt vielmehr, die Wucht und die Geschwindigkeit der Prozesse zu steigern, in denen wir begriffen sind. Da ist es gut, zu ahnen, daß hinter den dynamischen Übermaßen der Zeit ein unbewegliches Zentrum verborgen ist." ("Der Arbeiter").


 
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