© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/98 20. Februar 1998

 
 
Gesellschaft: Biologismuskeule wird geschwungen
Intelligenz als Tabu
von Alain de Benoist

Unzählige Faktoren werden zur Analyse von Bildungssystem, Arbeitslosigkeit, Kriminalität oder Einwanderung herangezogen. Nur ein Faktor fehlt regelmäßig, der mindestens genauso von Bedeutung ist wie die anderen: die intelektuelle Fähigkeit der Beteiligten. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, daß jeder Schüler befähigt sei, die Universität zu besuchen und dort einen Abschluß zu machen, die Ursachen der Kriminalität rein kulturell und gesellschaftlich bedingt seien, ein jeder qualifizierte Beschäftigung finden könne, Lehrer nicht mit ethnischer Psychologie vertraut zu machen seien oder alle Immigranten harmonisch integriert werden könnten, wenn man ihnen denn nur die Gelegenheit dazu gäbe. Diese Überzeugungen werden so selten ausgesprochen, aber sie sind Teil der "Gesetzmäßigkeiten" unseres Zeitgeistes. Das Drama aber: Sie sind falsch. Menschen können sicherlich gleiche politische Rechte besitzen (allein schon bedingt durch die Tatsache, daß sie alle Bürger sind), aber sie sind von Natur aus sicherlich nicht gleich. Sie haben weder die gleichen Eigenschaften noch die gleichen Fähigkeiten. Hunderte von mehrheitlich im Ausland veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchungen (tunlichst in Frankreich totgeschwiegen) bestätigen dies nach Belieben: das allgemeine Intelligenzniveau (der "Faktor G") ist mehrheitlich erblich übertragbar, genauso wie es das Temperament, die Persönlichkeit, die Befähigungen oder die Vorlieben sind. Die allgemeine Intelligenz, mit anderen Worten, kann zumindest teilweise als biologische Variable angesehen werden.

In Frankreich, wie in der Sowjetunion zu Zeiten von Lyssenko, beharrt man auf die Allmacht des Milieus. Hochbegabte sind suspekt, Genies werden "gemacht", und nie könnte es eine Veranlagung zur Straffälligkeit, nie im geringsten genetische Gründe für psychologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern geben. "Der Geist der heutigen Zeit ist soziologisch. Er behauptet, daß das menschliche Verhalten durch die Gesellschaft bestimmt wird", stellte kürzlich Alain Finkielkraut in Le Figaro fest. Kurz, der Mensch wird rein metaphysisch wahrgenommen: alle Individuen seien grundsätzlich gleich und alles, was sie unterscheide, resultiere aus der sozialen Herkunft. Wie Finkielkraut ergänzt: "Da jeder der andere eines jeden sei, werden die Rollen gegenseitig austauschbar und reversibel. Die Unterschiede verschwinden in einer Homogenität ohne Gegenmittel." Die Erblichkeit der Fähigkeiten und des Verhaltens sind wie die Sexualität im viktorianischen England: ein Tabu.

Keineswegs soll das gesellschaftliche Leben "biologisiert" noch der Einfluß des Milieus geleugnet werden – besonders des gesellschaftlichen Milieus, denn im Gegensatz zur landläufigen Meinung billigen die Untersuchungen der familiären Umgebung kaum langwirkende Prägung zu. In gutem Umfeld kann jeder seine Fähigkeiten verbessern, auch wenn niemand sie unbegrenzt und auf gleicher Weise mehren kann. Dennoch sollte man sich vor einer krassen Gegenüberstellung von Gesellschaft und "Natur" hüten: in der Familie vermischen sich Vererbung und Milieu, und im sozialen Leben ist das Umfeld häufiger erzeugt als erlitten. Gelegentlich fällt die Behauptung, den Einfluß der Vererbung anzuerkennen, verringere unseren Spielraum. Aber der soziokulturelle Determinisums begrenzt ihn genauso: Hätte man mehr Freiraum, wenn alles gesellschaftlich bedingt wäre? Auch besteht der Glaube, würde das Umfeld homogenisiert, so würden die Fähigkeiten angeglichen. In Wahrheit würden dadurch nur die angeborenen Unterschiede offensichtlicher: je einheitlicher das Milieu, desto sichtbarer die Vererbung.

Die Ungleichheit der Fähigkeiten anzuerkennen, erzeugt nichtdestoweniger ernste Probleme. Hauptsächlich wegen der Bedeutung, die die technisierte Gesellschaft der abstrakten Intelligenz beimißt. Früher wurde sie nicht isoliert betrachtet: der Wert einer Person beruhte nicht nur auf ihrer Intelligenz, sondern auch auf anderen Züge seiner Persönlichkeit. Die Gesellschaft hingegen war derart strukturiert, daß ein jeder seinen Platz in ihr finden konnte: selbst der Dorftrottel hatte eine Rolle im öffentlichen Leben zu spielen. Nichts dergleichen heutzutage. Die Hauptfaktoren der Wertschöpfung (und des sozialen Aufstiegs) sind die Intelligenz, die Fähigkeit und die Kreativität. Der technische Fortschritt läßt eine "immaterielle" Gesellschaft entstehen, die zunehmend weniger unqualifizierte Arbeiter benötigt. Dies ist einer der Hauptgründe für das Anwachsen der Arbeitslosigkeit. Aber auch dafür, daß die politische Klasse so schwer mit dem schwindenden Ziel der Vollbeschäftigung zu kämpfen hat. Die heutigen Phänomene der Ausgrenzung sind gänzlich anderer Art als die der ehemaligen Klassenkämpfe. Sie lassen eine Gesellschaft enstehen mit einer kleinen Anzahl Hochqualifizierter, die sich jedem technischen Fortschritt anpassen, und einer wachsenden Masse Unqualifizierter, die dramatischerweise unnützlich wird. Die Gefahr einer sich bildenden neuen kognitiven Elite ist demnach groß, die sich streng fernab von einer zur Ausgrenzung verdammten Masse von Bürgern hält, deren Fähigkeiten sie nicht mehr benötigt. Es wäre Zeit, dem Faktor Intelligenz Rechnung zu tragen. Aber genauso, nicht alles und jedes darauf zurückzuführe


 
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