© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/98 20. Februar 1998

 
 
Vor Ort: Ein Tag im Nordosten Brandenburgs unter Leistungsempfängern
Haus der hundert Telefone
Kai Guleikoff

Die Arbeitsämter gehören zu den meistbeschäftigten Branchen in Berlin-Brandenburg. Vom 16. bis 20. Februar 1998 führten sie eine Berufsberatungswoche durch. Die Veranstaltungsreihe "Berufskunde vor Ort" wendete sich an die Jugendlichen unter 20 Lebensjahren, die auch immer mehr von der wachsenden Arbeitslosigkeit in Deutschland betroffen sind. Ein Schwerpunkt der Arbeitslosigkeit in Berlin-Brandenburg befindet sich im Nordosten, im Arbeitsamtsbezirk Eberswalde. Die Stadt mit der berühmten Forstfakultät liegt nordöstlich von Berlin.

Wir benutzen die A 11 vom Berliner Ring aus bis zum Abzweig Finowfurt. Finow und Eberswalde sind im Lauf ihrer baulichen Entwicklung zusammengewachsen. Eine breite Straße mit Busspur führt uns bald vor zwei große Gebäude, das Finanzamt und das Arbeitsamt Fürstenwalde. Zweckbauten im DDR-Stil der 80er Jahre, 40 Fenster nebeneinander in jedem der 5 Geschosse. Einziger Schmuck sind farbige Glasverkleidungen der Außenfront, die nun aber stückweise herausfallen und vor deren Niedergang ein Schild des Arbeitsamtes warnt. In diesem Haus wird die Arbeitslosigkeit des Hauptamtes Eberswalde und der Nebenämter Angermünde, Bernau, Prenzlau, Schwedt/Oder und Templin verwaltet. Die Ämter umfassen die Landkreise Uckermark und Barnim mit einer Bevölkerung von 312.000 Einwohnern auf einer Fläche von 4.552 Quadratkilometern.

Der Verwaltungsbereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit/Statistik gibt uns freundlich Auskunft über schaurige Zahlen der Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den Jahren 1991 bis 1997. Im Januar 1997 betrug der Durchschnitt 23,4 Prozent, in den Nebenamtsbereichen Angermünde und Prenzlau sogar 27 Prozent. Einschließlich der "Schattenbereiche", die jede Statistik ausweist, ist in Gegenden mit einer langen Tradition der Gewerbeansiedlung, der Industrie sowie Land- und Forstwirtschaft jeder Dritte ohne Arbeit. Äußerst bedrückend ist dabei der rasante Anstieg seit 1991, nachdem zwei Drittel der bestehenden Betriebe und Einrichtungen geschlossen wurden und ein Drittel Restbestand noch personell verkleinert worden ist. Im Januar 1991 betrug die durchschnittliche Arbeitslosenquote "nur" 9,3 Prozent, obwohl noch der Nebenamtsbereich Bad Freienwalde mit 11,1 Prozent hinzugezählt werden mußte. Die genannten Bereiche Angermünde und Prenzlau hatten damals "lediglich" 6,6 bzw. 9,8 Prozent Arbeitslosigkeit.

Nach der Wende sind viele "in die Freiheit abgestürzt"

Wir wollen jetzt Betroffene ausmachen. Im Arbeitsamt werden wir mit unseren Kameras nicht gerade freundlich betrachtet. Daher verzichten wir auf den Empfang einer Wartemarke, die es am Informationsschalter gibt, und begeben uns in die Stadt Eberswalde.

Das Stadtbild ist ebenfalls durch den Umbruch des Jahres 1990 geprägt. Neubauten und renovierte Fassaden stehen neben entglasten und verfallenden Gebäuden, deren Besitzverhältnisse bzw. Weiterverwendungen bis heute nicht geklärt werden konnten. Kioske sind immer Treffpunkte, wenn das Wetter dazu noch wie an diesem Tag einlädt. Für einen frühen Nachmittag haben wir Glück: Zwei blasse Jugendliche und ein Mann im bevorstehenden Rentenalter mit gerötetem Gesicht wecken unser Interessen. Der Kontakt ist schnell hergestellt durch "eine Runde Bier". Die Jugendlichen gehören zu den 513 in der Statistik ausgewiesenen Arbeitslosen unter 20 Lebensjahren. Zuvor hatten sie sich im Arbeitsamt melden müssen in Vorbereitung der Berufsberatungswoche. Zwei Ausbildungsbetriebe wollen sich da vorstellen, die Eberswalder Fleischwarenfabrik GmbH & Co. KG und die Bahr-Baumärkte Eberswalde. Eine Ausbildung als Fleischer finden beide wegen der körperlichen Anforderungen und wegen des vielen Blutes nicht gut. Baumarkt sei da schon besser wegen des abfallenden Materials für Werksangehörige. Doch solche Jobs will jeder, und mit ihren Zeugnissen kämen sie nicht in die Endrunde. Aber hingehen müssen sie wohl, sonst gibt’s Ärger mit dem Arbeitsamt oder sogar Leistungskürzung.

Wir fragen nach Nebenbeschäftigungen und zeigen ein Mitteilungsblatt für Arbeitslose zu diesem Thema herum. Im gedruckten Beispiel wird ein Arbeitslosengeld von monatlich 1.778,40 DM ausgewiesen, das mit einem Netto-Nebeneinkommen von monatlich 481 DM verrechnet werden soll. Das ausgezahlte Arbeitslosengeld würde dann 1.653,08 DM im Monat betragen. Der Vorrentner in der Runde beginnt zu lachen und erklärt uns, daß er diese Summe nicht einmal als Vollzeitbeschäftigter mit fünfzig Wochenstunden bekommen hätte, wenn sein Chef überhaupt mal zahlen konnte. Letztmalig sei das im Jahr 1993 gewesen; seitdem drücke er sich mit nunmehr 58 Lebensjahren auf den Ämtern herum. Der Ofen sei aus, aber Land ist in Sicht, womit ein Übergangsgeld bis zur Rentenzahlung gemeint sei.Bis zur Wende habe er als Kraftfahrer 27 Jahre in einem Betrieb gearbeitet und Kies gefahren. Danach sei er für zu alt erklärt worden und "in die Freiheit abgestürzt". Drei Jahre dann noch bei wechselnden Arbeitgebern und dann als teilzeitarbeitsuchender Arbeitsloser in die Statistik aufgenommen. Dem Angebot einer Umschulung konnte er mit Geschick ausweichen, weil der Theoriekram ihm den Rest gegeben hätte. Er sei eben immer Kraftfahrer gewesen.

Arbeit hat es hier immer mehr als genug gegeben. Vor der Wende gab es im Industriegebiet Eberswalde-Finow fast 8.000 Beschäftigte in Vollzeitarbeit. VEB Kranbau Eberswalde und VEB Walzwerk Finow seien doch auch im Westen gefragte Namen gewesen. Bei Lichterfelde, nördlich von Eberswalde-Finow habe es mehr als 10.000 Mastplätze für Schweine gegeben zur Versorgung Ost-Berlins. Dann noch die Kiesgruben und die Ziegelwerke. Er hat sich in Begeisterung geredet. Unsere Jugendlichen schweigen, von Pionier- und FDJ-Erlebnissen zu reden haben sie "keinen Bock". Für sie muß es noch Zukunft geben, doch hier in der Gegend nicht. Sie wollen ihr Glück in Westdeutschland suchen, Bayern sei sehr schön. Bei einem Besuch von Kloster Chorin haben sie die Geschichten von dem vergeblichen Bemühen der Wittelsbacher gehört, in der Mark Brandenburg Fuß zu fassen. Die Bayern, die heute hierher kommen, wollen schnell verdienen und schnell wieder gehen. Jetzt müssen sie als Märker versuchen, ihnen zu folgen, um dort ihr Glück zu probieren.


 
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