© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/98  06. Februar 1998

 
 
Europäische Union: Kommissare in Brüssel sehen alles, wissen alles und bestimmen alles
Zentralkomitee im Machtrausch
von Johanna Christina Grund

Diese Geschichte vom Zentrum einer unheimlichen, weil unabwendbaren Macht über 370 Millionen Menschen auf dem europäischen Kontinent, den britischen und irischen Inseln spielt weder als historische Reminiszenz im Moskau der Kom-intern mit ihrem Herrschaftsanspruch über Europa und die Welt, noch im Berlin der Ulbricht- und Honecker-Ära. Letztere hatte mit ihrem inzwischen gescheiterten, angeblich volksbeglückenden Sozialexperiment nicht im entferntesten jene Vollmacht wie das Zentralkomitee der 20 Prätorianer, das im "blauen, goldbesternten Kreml" in der Brüsseler Rue de la Loi 200 (Wetstraat) über die Verträge der Europäischen Union wacht.

Die Herrschaft der Technokraten der neuen, 1992/93 aus der im Verhältnis dazu noch harmlosen EG entstandenden Union ist scheindemokaratisch. Denn sie hat sich nicht durch militärische Eroberung in einem Bürger- oder Weltkrieg etabliert, sondern sie beruht auf Selbstunterwerfung von 15 parlamentarischen Demokratien mit dem Ziel der Aufgabe ihrer staatlichen Eigenständigkeit.

Gemeinsam ist dem "roten" wie dem "blauen" Zentralkomitee der Rausch an der ihm von den Unionsgründern verliehenden Macht. Diese Macht stellte und stellt jeweils die Entartung einer ursprünglich noblen, große Menschenmassen begeisternden Idee dar, damals der Vision vom Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, heute der Vision von einem in Frieden und Freundschaft zusammenwirkenden Europa aufrechter Nationen und intakter Staaten. In jeder Entartung aber keimt schon der Untergang.

Musterbeispiel einer oligarchischen Ordnung

Das Zentralkomitee der EU nach dem Maastrichter Vertrag nennt sich Kommission, ist ernannt, von niemandem gewählt, im Block bestätigt nur von 626 Mandataren des ansonsten machtlosen Europäischen Parlaments, und stellt – einmal im Amt – eine Machtkonzentration unvorstellbaren Ausmaßes dar. In Wirklichkeit agiert in Brüssel eine ausgesuchte Elite von phantastisch hoch bezahlten Beamten, 20 Kommissaren, ihren Kabinettchefs, 23 Generaldirektoren samt Stellvertretern, Abteilungsleitern und 18.000 Sachbearbeitern samt Sekretariaten und Dolmetschern. Eine Oligarchie im reinsten Sinne des Wortes, die eigentliche Über-Regierung für die 15 EU-Staaten, entzogen jeglicher Kontrolle durch nationale Parlamente, geschweige denn der Hunderte Millionen einfachen "Untertanen". Vom Bürger als demokaratischem Souverän kann im Syndikat von Brüssel keine Rede mehr sein.

Der ungehorsame, sich des einst allein gültigen nationalen Rechtes entsinnende Bürger eines Mitgliedsstaates wird nicht mit jener Brutalität mundtot gemacht, die das "rote" Zentralkomitee einst durch seine Kommissare ausüben ließ. Es gilt nicht die Strategie des Bären. Die sanfteren Methoden der Disziplinierung, die das "blaue Zentralkomitee" anwendet, sind Vernichtung beruflicher Karrieren durch gesellschaftliche Ausgrenzung.

Das ist bei nahezu 20 Millionen Arbeitslosen im Imperium leicht herbeiführbar. Sie sind weiter Geldstrafen in astronomischer Höhe bis zur Zerstörung jeder geschäftlichen Existenz. Sie sind weiter Verurteilungen zu monatelanger Ordnungshaft durch nationale Gerichte und Klagen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zur Auslösung von Sanktionen gegen vertragsabhängige Mitglieder. Es gilt die Strategie der Schlange.

Der Medienkonsument hierzulande vernimmt vom Wirken der EU-Kommission fast nur durch Berichte über Strafen oder Anordnungen, die unsinnig sind oder als massive fremde Einmichtung ins tägliche Leben erscheinen. So sei an das Verbot der Zahlung von 91 Millionen D-Mark des Freistaates Sachsen als Förderung an die Volkswagenwerke zum Erhalt von 3000 Arbeitsplätzen in den Betrieben Zwickau und Chemnitz 1996 erinnert. Als Brüsseler "Teufel vom Dienst" agierte Kommissar Karel van Miert. Es sei daran erinnert, daß die Kommission ab 1. Juli 1993 Deutschland zu einer destruktiven Marktordnung für Bananen zwang, die erst 1997 durch das Schiedsgericht der Welthandelsorganisation WTO verworfen wurde.

Vor einigen Monaten deckte das Europäische Parlament einen sagenhaften Schwindel der Kommission bei der Vertuschung des Rinderwahnsinns seit 1990 auf, bekam dann aber Angst vor der eigenen Courage. In der Macht-kamarilla von Brüssel wäscht eine Hand die andere. Auf politischen Druck der ertappten Schwindler, von britischen Regierungsstellen und von Kanzler Kohl als Freund von Kommissions-Präsident Santer, kippte der Mißtrauensantrag gegen die Verantwortlichen des Skandals. Es sei daran erinnert, daß auf Anweisung der Kommission bei den Fällen von Schweinepest in deutschen Bundesländern jenseits der betroffenen Betriebe und weit außerhalb der verseuchten Landkreise Zehntausende von gesunden Tierbeständen gekeult werden mußten und müssen, obwohl nach deutschem Recht die flächendeckende vorbeugende Impfung möglich gewesen wäre und das Massaker verhindert hätte. Deutsches Recht aber wird von EU-Recht gebrochen. Deutsche Exekutivbeamte bei Polizei, Gericht oder sonst einer staatlichen Behörde lassen sich sogar als Büttel von Brüssel miß- oder gebrauchen und gehen gegen eigene Landsleute im Namen des Rechtes vor. Das kennzeichnet in Wirklichkeit den Kolonialzustand der Mitglieder gegenüber der EU.

Einmischung ist durch Vertragsrecht gedeckt

Aber die Liste der aktuellen Absurditäten ist nahezu unerschöpflich: Die Durchsetzung des Markenrechtes zum Nachteil der Konsumenten bis hin zur Vernichtung der Ware, der Verhängung von 500.000-DM-Ordnungsstrafen oder Haft gegen die Geschäftsführer, die Erzwingung eines schizophrenen Tabak-Werbeverbotes, die Aufhebung der vernünftigen und bewährten Buchpreisbindung, die Förderung quälender Tiertransporte aus Profitgründen oder die Zulassung gen-manipulierter Lebensmittel.

Der neueste Schlag von EU-Kommissar Karel van Miert, zuständig für Wettbewerbspolitik, gilt dem Volkswagenwerk in Wolfsburg wegen eines schweren Vergehens der Marktabschottung gegen die Regeln des freien Binnenmarkts. Der Autokonzern soll 200 Millionen D-Mark Strafe nach Brüssel bezahlen, weil er seine Händler in Italien angewiesen haben soll, keine dort bis zu 30 Prozent billigeren Autos an Kunden aus anderen EU-Ländern zu verkaufen. Grundlage ist Artikel 85 des EWG-Vertrages nach Wirksamwerden der Einheitlichen Europäischen Akte. Man kann zu dieser Praxis von Volkswagen stehen, wie man will. Diskriminierend für Kaufinteressenten unerwünschter Nationalität ist sie in jedem Falle. Die Ursachen eines solchen Vorgehens liegen aber im System selbst begründet. Wer Handelsgrenzen niederreißt, den Staaten verbietet, Einfuhrzölle zum Schutz der nationalen Wirtschaft einzuheben, ja nach dem Unsinn von "Schengen" an den Grenzen überhaupt noch zu kontrollieren, wer oder was aus Italien einreist, schafft erst solche Fälle und führt das elfte Gebot ein: "Du sollst dich nicht erwischen lassen."

Um die Beweise für ihre Strafjustiz zu erhalten, hat die Kommission Hausdurchsuchungen bei Volkswagen, Audi und dem italienischen Generalimporteur Autogerma durchführen lassen. Der ahnungslose Normalbürger in den EU-Staaten fragt sich, wie denn das gehe und mit welcher Gewalt das in x-beliebigen anderen Ländern durchgesetzt werden könne. Die Kommission bedient sich dazu der nationalen Staatsmacht, die ihr zu Dienst sein muß. Etwas später wird dann Europol, die Polizeitruppe der EU mit immunen Sheriffs, gegen die man nicht einmal mit Dienstaufsichtsbeschwerden vorgehen kann, auf Befehl von Brüssel einrücken und tabula rasa machen. Denn dieses "blaue" Zentralkomitee kann ja nur strafen und sanktionieren, weil ihm die Mitgliedstaaten ihre Souveränität abgetreten haben.

Was diese unheimliche Macht unternimmt, ist sogar Rechtens. Sie besitzt die gesamte Kontrollvollmacht, das Vorschlagrecht, das Exekutivrecht, das Verhandlungsrecht und das Verwaltungsrecht nach Artikel 155, Absatz 1 des Vertrages. Sie hat inzwischen 80 Prozent aller legislativen Akte an sich gerissen und einen Rechtsetzungsfimmel sondergleichen entfaltet. Die Kommission kann laut Artikel 169 von den Mitgliedern Erklärungen und Stellungsnahmen anfordern und beim EuGH klagen, wenn ein dem EU-Recht unterworfener Staat seinen gemeinschaftlichen Verpflichtungen nicht nachkommt. Artikel 213 gestattet es der Kommission, bei den Staaten und Unternehmen sämtliche Informationen einzuholen und Überprüfungen einzuleiten und gegen Unternehmen, die die Wettbewerbsregeln nicht einhalten, Sanktionen zu verhängen.

In einer ganzen Reihe untypischer Strukturen ohne demokratische Legitimation liegt die immense Macht dieses Eurokraten-Apparates begründet. Die Kommissare besitzen das alleinige Initiativrecht für legislative Akte. Das Europäische Parlament wird zwar unter Mißachtung des Grundsatzes der Stimmen-Gleichheit von den Völkern gewählt, besitzt aber auch nach Maastricht nicht die klassischen Rechte nationaler Parlamente, sondern wird von den Kommissaren zensiert. Selbst das Budgetrecht ist ihm genommen. Es kann den von der Kommission aufgestellten Haushaltplan mit absoluter Mehrheit nur als Ganzes zurückweisen.

Prioritätenveränderungen sind so gut wie unmöglich. Auch ein Mißtrauen gegen die Kommission ist nur gegen das ganze Kollegium möglich, wegen der üblichen schwarz-roten Kungelei aber praktisch undenkbar. Gesetze verabschiedet der Ministerrat nur auf Vorschlag der Kommission und kann selbst bei Komplexen, die lediglich einfache oder qualifizierte Mehrheit erfordern, ein Kommissionskonzept nur einstimmg abändern.

Die Macht in Brüssel muß sich nicht verantworten

Die Macht in Brüssel ist für die Parlamentarier, geschweige denn für die Bürger in den Mitgliedsstaaten kaum zu greifen. Sie muß sich nicht verantworten, kann nicht vom Volk gewählt werden und herrscht wie in den Zeiten des monarchischen Absolutismus oder der Ein-Parteien-Diktaturen. Die Macht von Brüssel ist eine Macht ohne Identität. Die Exekutive degradiert dort die Legislative zum Knecht.

Wer von den deutschen Wahlbürgern hat den Langzeitkommissar Martin Bangemann, verantwortlich für gewerbliche Industrie, Informationstechnologie und Telekommunikation, oder die ehemalige ÖTV-Gewerkschaftsführerin Monika Wulf-Mathies, Kommissarin für Regionalpolitik und Beziehungen zum Ausschuß der Regionen, je gewählt? Die meisten wissen nicht einmal, wer da über sie herrscht und ihr persönliches Leben verändert. Welcher Teufel hat die politisch Verantwortlichen in den nunmehr 15 Ländern je geritten, daß sie ihre Bürger dieser sagenhaften Knechtschaft unterworfen haben?


 
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