© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/98  06. Februar 1998

 
 
Arbeitslosenrekord in Deutschland: Uwe Kantelhardt und Ingrid Schindler über Eigeninitiativen, den Euro und die wirtschaftspolitische Verantwortung der Kohl-Regierung
"Die Mehrheit fühlt sich von keiner Partei mehr vertreten"
von Dieter Stein/Peter D. Krause

Herr Kantelhardt, die Öffentlichkeit scheint nicht besonders erschrocken auf die fast fünf Millionen Arbeitslosen zu reagieren.

KANTELHARDT: Wir haben deshalb vor zwei Wochen einen Aufruf zur Durchführung von zentralen Aktionen vor den Arbeitsämtern gestartet. Hier ist die Reaktion aus den über 1.500 Initiativen, die wir in Deutschland haben, ausgesprochen groß.

Im Verhältnis zu Frankreich haben die Arbeitslosen bislang die wirtschaftliche Lage relativ seelenruhig aufgenommen.

KANTELHARDT: Wir blicken auch etwas neidisch nach Frankreich, das ist richtig. In Frankreich hat der soziale Protest auch eine andere Tradition als in Deutschland. Was wir lernen können, ist, daß die vielen kleinen Arbeitsloseninitiativen eine ganz schöne Kraft auf den Straßen entwickeln können, wenn die Öffentlichkeit und andere gesellschaftliche Gruppen mitziehen.

"Immer mehr Arbeitslose werden wütend"

Weshalb ziehen sich Arbeitslose in ihrer Mehrzahl ins Private zurück?

KANTELHARDT: Im Unterschied zu Frankreich scheint hier das soziale Klima stärker vergiftet zu sein. Wenn ich an Kampagnen mancher Organe wie Focus denke, das mal mit dem Titel "Das süße Leben der Sozialschmarotzer" aufgemacht hat, dann ist das die Spitze des Eisberges einer Kampagne, in der Arbeitslose diffamiert werden und in der ihnen die Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit in die Schuhe geschoben wird. Bei vielen Menschen verfängt das, und sie ziehen sich zurück und glauben es schließlich selber, daß sie schuld an ihrer Situation sind. Auch die Bundesregierung betreibt dieses trickreiche Spiel. Der Bundeskanzler ist in seiner Regierungserklärung mit der infamen Behauptung angetreten, er kenne Untersuchungen, daß 30 Prozent der Sozialhilfeempfänger überhaupt nicht arbeiten wollten, und daß er damit aufräumen wolle. Das hat jetzt Blüm umgesetzt: Mittlerweile sind wir wieder soweit, daß Arbeitslose gezwungen werden, für 2,50 DM Schnee zu schippen – das ist eigentlich völlig menschenunwürdig. Blüm hat sich kürzlich gerühmt, in seiner Regierungszeit bei Rentnern und Arbeitslosen 98 Milliarden eingespart zu haben. So etwas macht man nicht ungestraft. Unsere Initiativen berichten, daß immer mehr Arbeitslose wütend werden und nicht nur resignativ sind.

Blüm pocht in der Presse darauf, daß die Versorgung in Deutschland immer noch besser sei als in Frankreich…

KANTELHARDT: …Milchmädchenrechnungen!

...zeigt Blüms Hinweis nicht, daß Sozial- und Arbeitslosenhilfe auch als eine Art politisches Schweigegeld verstanden wird?

KANTELHARDT: Es geht nicht ums Geld, sondern Blüm meint, es gäbe bei uns keinen Grund zu demonstrieren, weil unser soziales Netz so wunderbar ist.

Es geht doch nicht nur um Geld, sondern um meschliche Würde, daß man sich nicht überflüssig vorkommt, wenn man nicht arbeiten kann.

KANTELHARDT: Das ist richtig! Es gibt Arbeitslose, denen fällt die Decke auf den Kopf, und die wollen arbeiten, und die nehmen dann wirklich jede Arbeit an, die ihnen angeboten wird, und fallen dann auch auf Jobs rein, wo sie vom Regen in die Traufe kommen. Man arbeitet sich dann regelrecht arm. Die Leute, die an der Schraube des Sozialabbaus drehen, sind die wahren Brandstifter in dieser Republik.

Wen machen Sie für die steigende Arbeitslosigkeit in Deutschland verantwortlich?

KANTELHARDT: Das ist letztlich eine Systemfrage: In allen westlichen Industrieländern gehört die Arbeitslosigkeit dazu. Wenn man nicht eine völlig andere Wirtschafts- und beschäftigungspolitik macht, dann wird man das Problem nicht in den Griff bekommen. Letztlich stellt sich auch die Frage nach betrieblicher und wirtschaftlicher Mitbestimmung. Aber so weit sind wir noch nicht…

Jetzt weichen Sie aber aus. Auf Ihrem Flugblatt heißt es: "Kein Geld, kein Job – und Kohl ein Flop" Sie machen doch klar die Bundesregierung für diese Krise verantwortlich.

KANTELHARDT: …diese Regierung redet die Arbeitslosigkeit klein. Von Halbierung bis zum Jahr 2000 kann überhaupt keine Rede sein, sondern die Arbeitslosigkeit steigt weiter. Kohl und Blüm müssen weg!

Die Verantwortlichkeit für Wirtschafts- und Sozialpolitik wird immer unübersichtlicher dargestellt. Da wird von Globalisierung, von zunehmender Kompetenzverlagerung auf die europäische und internationale Ebene geredet. Ist dies nicht auch ein Ausweichmanöver Bonner Politiker – egal welcher Couleur –, um darum herumzukommen, Verantwortung für die Beschäftigten in diesem Land zu tragen?

KANTELHARDT: Wer den Standort Deutschland schlechtredet, der will sich nur für sein Nichtstun entschuldigen. Das ist ja auch nicht wahr, wenn man sich die Exportzahlen und die Stärke der deutschen Wirtschaft ansieht. Die Gewinne explodieren!

Es wird aber kontraproduktiv gearbeitet: Das Rentenalter ist verlängert worden, wir haben zu wenig Arbeitsplätze, wir haben mehr Menschen, die arbeiten wollen.

Nun werden unter dem Eindruck der kommenden Bundestagswahl im Wahlkampf einige Bonbons angeboten, auch unter dem Eindruck des sich entwickelnden Protestes, die aber in keiner Weise ausreichen werden und die Augenwischerei sind.

Die Einführung des Euro scheint im Zusammenhang mit der steigenden Arbeitslosigkeit ein Tabuthema zu sein: Wie erklären Sie sich, daß es bei der Einführung des Euro angeblich rundum nur Gewinner geben soll – Banken, Konzerne, Aktionäre auf der einen, Mittelstand, Rentner, Kleinsparer und Arbeitslose auf der anderen Seite?

KANTELHARDT: Da streiten zwei Herzen in meiner Brust: Der europäische Gedanke hat für mich eine Faszination, ich finde es auch richtig, daß es einmal einen Weltbürger gibt – die Voraussetzung dafür ist, daß es irgendwann einen europäischen Bürger gibt. Das Ganze wird aber dadurch desavouiert, daß dies alles auf Kosten der kleinen Leute finanziert werden soll.

Aber warum ist das kein Thema für die Gewerkschaften? Der in Karlsruhe gegen den Euro klagende Wilhelm Hankel, ehemaliger Berater des SPD-Finanzministers Schiller und hessischer Ex-Landesbankpräsident, warnte, daß sich die Arbeitslosigkeit und die sozialen Spannungen durch die Euro-Einführung auch noch verschärfen werden.

KANTELHARDT: Es ist eine politische Entscheidung, wie ich meinen Haushalt wegen der Maastricht-Kriterien saniere. Die Bundesregierung hat sich da eben entschlossen, den Reichen Steuergeschenke zu machen und bei den Sozialhilfeempfängern, Rentnern und Arbeitslosen zu kürzen. Bisher ist diese Strategie aufgegangen, sie sind wiedergewählt worden, und es ist relativ ruhig geblieben. Wir hoffen, daß sich das jetzt ändert.

Nochmal nachgefragt: Wenn die Währungspolitik nicht mehr auf nationaler Ebene gemacht wird, auf der ja auch die soziale Sicherung stattfindet, kann die Bundesregierung die Verantwortung getrost nach Brüssel oder sonstwohin delegieren. Wie sollen auf europäischer Ebene dann Arbeitskämpfe organisiert werden?

KANTELHARDT: Das stimmt nicht! Die Gewerkschaften bemühen sich, auf europäischer Ebene Mindeststandards einzufordern – da muß man wesentlich mehr Druck machen. Die Arbeitsloseninitiativen sind im letzten Jahr zum EU-Gipfel nach Amsterdam marschiert. Es ist noch nicht erkannt worden, daß, wer "Ja" sagt zu Europa, auch "Ja" sagen muß zu den Menschen, die aufgrund ungleich verteilter Lasten in Schwierigkeiten geraten.

Von den Gewerkschaften werden die sozialen Folgen des Euro offenbar noch nicht realisiert.

KANTELHARDT: Der Euro-Marsch war ja schon eine tolle Idee, die die Franzosen hatten. Der hat in Frankreich auch dazu geführt, daß es nun Vernetzungseffekte zwischen Initiativen gibt, die nun funktionieren bei den aktuellen Protesten. Arbeitslosendemonstrationen kann man nicht organisieren, indem irgend jemand auf einen roten Knopf drückt, und dann marschieren die Arbeitslosen los. Das funktioniert anders, nämlich über kleine Initiativen, die in Wohngebieten sitzen. Das sind ganz andere Strukturen – die müssen wachsen von Aktion zu Aktion, von Bündnis zu Bündnis, das neu geschlossen wird.

Wir haben auch ganz interessante Reaktionen aus dem europäischen Ausland: Wir haben jetzt Kontakt zu den organisierten Arbeitslosen in Holland gehabt – da wächst auch Europa von unten zusammen. – Wir haben es nicht leicht, wir sind klein, schlecht finanziert, wir haben wenig Mittel.

Wie ungetrübt ist Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften, die notwendigerweise bei Tarifkonflikten erst einmal nur die in Arbeit Befindlichen und deren Interessen vertreten?

KANTELHARDT: Das Spannungsverhältnis ist naturgegeben.

Denken Sie darüber nach, sich unabhängiger von den Gewerkschaften zu organisieren?

KANTELHARDT: Wir finanzieren uns aus öffentlichen Mitteln und Gewerkschaftsgeldern. Unser Träger ist aber ein gemeinnütziger Verein auf Bundesebene. Wir sind zwar sehr nah dran an den Gewerkschaften, haben aber auch ein Stück Unabhängigkeit. Das erleichtert uns die Arbeit enorm, weil man nicht eingebunden ist in einen Apparat. Dann ist es auch leicht, Kontakt aufzunehmen zu Gruppen, die weiter entfernt sind von den Gewerkschaften. Gegen die Spaltung in dieser Gesellschaft kann man nur ankämpfen, wenn alle zusammenhalten!

Weshalb ist Solidarität in Deutschland zu einem Fremdwort geworden? Warum sind Gruppen und Einzelinteressen wichtiger als die Interessen Millionen Arbeitsloser oder der Gemeinschaft? Sind wir ein Volk auf dem Ego-Trip?

KANTELHARDT: Man spricht ja über Wertewandel und Individualisierung. Man muß sich doch nur einmal umschauen in den Wohnquartieren und den Städten. Ich wundere mich auch, warum ich nicht meinen Nachbarn kenne, der da seit fünf Jahren eingezogen ist. Da sind Kommunikationsstrukturen zerbrochen. Es nützt nichts, diesen hinterherzuweinen. Es entstehen neue. Und Frankreich zeigt, daß das Entstehen neuer Netzwerke und Nachbarschaftsinitiativen möglich ist, die man wohl schwer unterschätzt hat.

Die Menschen wollen ihren Stolz und ihre Selbstachtung wiedergewinnen?

KANTELHARDT: Es gibt Menschen, die sind seit zehn Jahren arbeitslos. Die werden auch arbeitslos bleiben. Die warten auf ihre Rente, die dann so niedrig ausfällt, daß sie unter Umständen auch noch zum Sozialamt gehen müssen. Das kann man schwer ertragen, wenn man isoliert und allein ist. Wenn man Anschluß gefunden hat an andere Betroffene, an Selbsthilfegruppen, kann das Leben dann noch lebenswert sein, wenn man eine Verantwortung übernimmt und andere Menschen noch unterstützen und organisieren kann, die in ähnlicher Lage sind.

Es kann sinnvoller sein, statt am Supermarkt für ein Handgeld Einkaufswagen zusammenzuschieben, sein Geld zusammenzuhalten und sich politisch zu engagieren. Die Alternative muß man aber erkennen, und die muß einem nahegebracht werden.

Frau Schindler, findet sich die Öffentlichkeit mit fünf Millionen Arbeitslosen ab?

SCHINDLER: Bisher. Denn die Arbeitslosen haben dem Kanzler-Wort von der Halbierung der Arbeitslosenzahlen geglaubt. Aber nachdem er das revidiert hat, fühlen sich die Menschen hier erneut verkohlt. Der Widerstand nimmt zu. Die Menschen haben verstanden, daß die Arbeitslosigkeit nicht ihre Schuld ist. Sie lassen sich auch nicht mehr einreden, es liege am Erbe der DDR. Und auch die Scham ist weg. Heute geht kaum noch ein Arbeitsloser früh mit der Aktentasche aus dem Haus, um die Situation zu verheimlichen.

Frankreich hat es vorgemacht?

SCHINDLER: Ja, die Hoffnungslosigkeit zu überwinden, die Untätigkeit. Die Menschen werden sich nicht mehr in Mauselöchern verkriechen. Sie wissen mittlerweile, daß sie nur eine Chance haben, wenn sie für ihr Recht öffentlich eintreten, wenn sie sich einmischen – wie 1989. Die Aufgabe der kommenden Monate besteht darin, die Arbeitslosen ganz aus der Isolation zu führen, sie politisch zu aktivieren.

Welche Aktionen planen Sie in dieser und den nächsten Wochen?

SCHINDLER: Jeden Tag im Monat, an dem die Arbeitslosenzahlen verkündet werden, gehen wir auf die Straße, melden uns zu Wort. Am 5. Februar ist der Auftakt. Es werden sicher anfangs keine 230.000 Menschen in Thüringen auf die Straßen kommen. Aber die Bereitschaft ist besser denn je, für sich zu kämpfen. Wir wollen auch diejenigen einbeziehen, die noch in Lohn und Brot sind, die glauben, auf der sicheren Seite zu sein. Bei den meisten herrscht eine große Verunsicherung. Die Solidarität wächst, langsam zwar noch, aber immerhin. Immer mehr Menschen spüren den Raub am Sozialgut.

Gegen wen richten sich die Proteste?

SCHINDLER: Wir ziehen nicht vor die Arbeitsämter, sondern vor das Wirtschaftsministerium in Erfurt. Die Forderung ist klar, wir brauchen eine völlig andere Wirtschaftspolitik.

Was heißt das konkret?

SCHINDLER: Der erste Arbeitsmarkt muß entwickelt werden. Wir fordern Finanzierung von Arbeit, nicht von Arbeitslosigkeit. Und ich halte nichts von Schikanen und Zwang gegen Arbeitslose. Wir brauchen vielmehr eine Umverteilung im Lande.

Von oben nach unten? Klingt das nicht etwas einfach?

SCHINDLER: Ich bin keine Politikerin. Ich weiß aber aus meinem täglichen Umgang mit Arbeitslosen, daß Arbeitslosigkeit ein großes Übel ist. Eine Politik, die das Problem nicht lösen kann, hat versagt. Die Wirtschaft wächst, Konzerne haben an der deutschen Einheit viel verdient, die Gewinne der meisten Großunternehmen steigen seit 1993 schnell. Das merken die Menschen. Aber es sind keine Arbeitsplätze geschaffen worden. Alles bloße Versprechungen. Und dabei sind oft Tarifverträge günstig für die Firmen ausgehandelt worden. Die Reallöhne sinken.

Nun gibt es nicht nur die Export- und Großindustrie.

SCHINDLER: Das stimmt, wir müssen da unterscheiden und flexibler werden. Härteklauseln, auch Subventionen sind natürlich nötig, aber dort, wo sie angebracht sind, gerade für den Mittelstand. Aber wir müssen verhindern, daß diejenigen Konzerne, die sich nicht für den deutschen Arbeitsmarkt interessieren, vom Staat gehätschelt werden, daß Politik nur noch für die Großindustrie gemacht wird, die in Deutschland immer mehr Arbeitsplätze abbaut.

Fühlen sich die Arbeitslosen politisch nicht mehr vertreten, oder warum muß ein Verein wie der Ihre Protest organisieren?

SCHINDLER: Die Mehrheit der Arbeitslosen, mit denen ich zu tun habe, fühlt sich von keiner Partei mehr vertreten, von den regierenden Parteien schon gar nicht. Hoffnungen, was Arbeit betrifft, setzen die wenigsten noch in diese Wirtschaftspolitik. Veränderungen versprechen sie sich am ehesten von einer sozialen Politik.

Einer Ihrer Aufrufe lautet: "Wehrt Euch, verhindert amerikanische Verhältnisse!"

SCHINDLER: Es fehlt hier die schleichende Gewöhnung an die Arbeitslosigkeit wie im Westen. Die Situation ist viel angespannter. Die Menschen sind gleichsam über Nacht in ein neoliberales Wirtschaftssystem gestürzt. Ich will nicht nur für die neuen Bundesländer reden. Wenn die Gesellschaft sich weiter so auseinanderentwickelt, wird es in Deutschland soziale Probleme geben. Wir sind nicht in den USA, wo die Menschen an große Unterschiede gewöhnt sind. Ich verstehe nicht, wie ein System, in dem viele zwei Arbeitsverhältnissen nachgehen müssen, um die Familie ernähren zu können, wo viele Menschen ausgegrenzt sind, uns als Allheilmittel verkauft werden soll.

In diesem Jahr wird die Einführung des Euro beschlossen. Wirtschaft und Politik versprechen sich dadurch eine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt. Daß Banken, Exportindustrie, Aktionäre zu den Gewinnern zählen werden, scheint sicher. Aber die Arbeitslosen?

SCHINDLER: Zur Zeit weiß ich, daß wir in der EU 20 Millionen Arbeitslose haben. Aus der Sicht der deutschen Arbeitslosen kann ich nichts von der europäischen Vereinigung halten. Wir werden es auf dem gemeinsamen Arbeitsmarkt verstärkt mit sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnissen zu tun haben. Es wird zu einem ganz neuen Verdrängungswettbewerb kommen, gerade in den unteren Lohngruppen, bei den weniger qualifizierten Arbeiten. Der Einfluß der Gewerkschaften wird sinken. Die Einführung der einheitlichen Währung kommt viel zu früh. Der Euro dient den Konzernen und dem Finanzkapital, nicht aber den Menschen und wird keine Arbeitsplätze schaffen. Der Sozialstaat Deutschland soll verschwinden. Nur das Sozialstaatsmodell kann Vorbild für die Union sein, aber gerade das soll in der Vereinigung verschwinden. Die Exportwirtschaft wird sicher bessere Bedingungen bekommen, aber ich kann deren soziale Verantwortlichkeit schon im Territorialen und Nationalen nicht mehr erkennen. Wieso sollten sie, wenn sie noch unkontrollierter agieren können, auf europäischer Ebene anders werden?

"Zur Zeit regiert nicht Kohl, es regieren die Konzerne"

Wie sehen die Arbeitslosen der neuen Währung entgegen?

SCHINDLER: Die Menschen haben Angst, daß es ihnen in der Währungsunion noch schlimmer geht. Wenn nicht einheitliche soziale Bedingungen geschaffen werden, müssen die deutschen Arbeitslosen, und deren Zahl wird steigen, zu den Verlierern gehören. Was wird, wenn der portugiesische Unternehmer in Deutschland investiert? Er bringt portugiesische Arbeitskräfte mit, die billiger arbeiten. Der deutsche Arbeitnehmer kann natürlich auch nach Portugal gehen. Aber zu welchen Bedingungen? Es wird eine Anpassung des deutschen Lebensniveaus nach unten geben. Unsere Unternehmen werden kaputtgemacht, die Arbeitsplätze fallen weg. Ist das die Moral, die wir brauchen? Es geht doch wohl um den Standort Deutschland, also um die Arbeitsplätze für die Menschen hier. Es ist uns nicht geholfen, wenn man den Arbeitslosen sagt: Geht nach England, vielleicht bekommt ihr dort Arbeit.

Globalisierung bedeutet, daß Politik immer mehr mit transnational operierenden Unternehmen zu tun hat, die immer schwerer zu kontrollieren sind.

SCHINDLER: Es wird schon jetzt immer weniger das gesellschaftliche Ganze gesehen. Ein Grundübel ist, daß Politik nur noch auf einzelne Interessen und immer kurzfristiger reagiert. Das gesellschaftliche Gefüge droht zu zerfallen. Aber eine Regierung sollte dieses Gefüge organisieren. Damit ist die deutsche Regierung ja schon jetzt überlastet. Das Bild des Menschen wird auf den Konsumenten reduziert. Zumindest redet man uns dieses Bild ein.

Das heißt aber auch, die Wahrheit über die Währungsunion zu sagen. Mit Brüssel, so wie die Sache heute geplant ist, rückt die Möglichkeit, in Politik wirksam eingreifen zu können, in weite Ferne. Deshalb bin ich gegen die Währungsunion. Es werden lediglich die Verwertungsbedingungen des Kapitals verbessert. Der Neoliberalismus ist keine Lösung für die Gesellschaft. Wir brauchen eine starke politische Bevölkerung. Zur Zeit aber regiert nicht die Kohl-Regierung dieses Land, sondern die Konzerne.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen