© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/98  06. Februar 1998

 
 
Minderheitenpolitik: In der litauischen Hauptstadt wurde Polnisch zur zweiten Amtssprache
Neue Runde im Streit um Wilna
von Thomas Veigel

Das Verhältnis zwischen Polen und Litauen ist noch immer nicht unproblematisch und störungsfrei. Eine Art Gradmesser für den aktuellen Stand der Beziehungen ist die Abwicklung der Zollkontrollen am Hauptgrenzübergang in Kalvarija-Budziski, unweit der polnischen Stadt Suwalki und dem litauischen Marijampolé gelegen. Dessen Eröffnung 1996 hatte große Hoffnungen der Grenzgänger auf beiden Seiten hervorgerufen, denn die einzige zuvor existierende Kontrollstelle in Lazdiai lag an einer kleinen Nebenstraße und legte die Vermutung nahe, daß Polen an einer Öffnung seiner Grenze nach Nordosten überhaupt nicht interessiert sei.

Über Jahre hinweg diente dieser Übergang vor allem dem kleinen Grenzverkehr zwischen den im litauischen Staat lebenden rund 160.000 Polen (ca. 7 Prozent = zweitgrößte ethnische Minderheit nach den knapp 9 Prozent Russen) und ihrem Mutterland einerseits sowie der kleinen litauischen Minderheit von gut 40.000 Personen in der Region Suwalki andererseits. Zu Sowjetzeiten brauchte man von Polen aus kein Visum nach Litauen, sofern man aus der Grenzregion stammte. Für die Litauer genügte damals der einfache Nachweis eines Hotelzimmers im südlichen Nachbarland, um eine Einreiseerlaubnis zu bekommen.

Seit der Unabhängigkeit Litauens 1990 gehören kilometerlange Fahrzeugschlangen zum charakteristischen Bild dieser Kontrollstelle. Trotzdem gibt es Stunden, während derer die polnischen Zöllner – allen Staus zum Trotz – sich nicht einmal bequemen, ihre Unterkünfte zu verlassen. Daß in dieser Gegend mittlerweile kaum noch deutsche Fernfahrer anzutreffen sind, verwundert nicht weiter, wenn man sich außerdem die katastrophalen sanitären Verhältnisse links und rechts der Autokolonnen vor Augen (und Ohren) führt. Für deutsche Baltikum-Reisende stellt der Umweg auf dem Seeweg von Kiel oder Rügen aus – unter Umgehung Polens – ohnehin noch immer die beste Anfahrtsmöglichkeit dar.

Als schließlich im Dezember vergangenen Jahres die LKW-Schlangen eine Länge von über 14 Kilometern erreichten, intervenierte der litauische Botschafter in Warschau, Antanas Valionis, und tatsächlich versprach Oberstleutnant Marek Bienkowski vom polnischen Grenzkommando eine Besserung der Lage. Wer es eilig hat, muß jedoch noch immer ein stattliches Sümmchen berappen, um bis ins letzte Glied des polnischen Zolls hinein Kooperationsbereitschaft zu erzeugen. – Fazit der aktuellen Analyse des Indikators Grenzverkehr für die polnisch-litauischen Beziehungen: In der Theorie sieht alles schon ganz gut aus, und weitere Fortschritte sind in Aussicht gestellt, doch die praktische Umsetzung läßt zu wünschen übrig.

In der "großen Politik" steht es nicht anders: Polen will das kleine Nachbarland, mit dem man durch den Katholizismus und eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte verbunden ist (mit dem Höhepunkt in der Zeit des polnisch-litauischen Großreichs zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert), auf seinem Weg in die EU und die NATO nach Kräften unterstützen, und die "strategische Partnerschaft" beider Staaten wird in Wilna (litauisch: Vilnius) wie in Warschau gern beschworen. Auch existiert ein Nachbarschaftsvertrag, in dem sämtliche Grenzfragen offiziell ad acta gelegt sind. Doch all diese positiven Anzeichen werden immer wieder ins Negative verkehrt durch die realexistierenden Spannungen zwischen dem litauischen Mehrheitsvolk und der in der Hauptstadt Wilna und den südlich angrenzenden Landstrichen konzentriert lebenden polnischen Minderheit. Zuletzt kam es zu größeren Differenzen, nachdem das Wilnaer Bezirksbürgermeisteramt Anfang Januar beschlossen hatte, das Polnische zur zweiten Amtssprache aufzuwerten. Dies führte postwendend zu einer Intervention des Komitees für Ausbildung, Wissenschaft und Kultur des litauischen Parlaments (Seimas). Man verwies darauf, daß laut Verfassung das Litauische die einzige offizielle Staatssprache sei, und der Vorsitzende der Region Wilna – ein Litauer – erklärte die gesetzeswidrige Entscheidung für nichtig.

Das Wilnaer Gebiet hat seit dem Ende des Ersten Weltkrieges wiederholt Anlaß zu polnisch-litauischen Streitigkeiten gegeben. Zwischen 1915 und 1918 war die im 10. Jahrhundert gegründete Stadt an der Neris von deutschen Truppen besetzt; nach deren Abzug Anfang 1919 wurde hier unter maßgeblicher Mitwirkung des in Wilna stark vertretenen jüdischen Bevölkerungsanteils die kurzlebige "Vereinte Sozialistische Räterepublik Litauens und Weißrußlands" aus der Taufe gehoben. Im April 1919 marschierten in die ethnisch mehrheitlich polnische Stadt reguläre polnische Truppen unter General Szeptyckyj ein. Nach der Eroberung durch die Rote Armee im Juli 1920 wurde Wilna dann im litauisch-sowjetischen Friedensvertrag vom 12. Juli 1920 an Litauen zurückgegeben. Am 7. Oktober desselben Jahres einigten sich litauische und polnische Vertreter auf Druck des Völkerbundes in Suwalki auf einen vorläufigen Verbleib der Stadt bei Litauen, aber bereits zwei Tage später wurde sie von polnischen Truppen unter General Zeligowski besetzt. Aus der ganzen Region wurde der Staat Mittel-Litauen gebildet, dessen Vertreter sich am 22. Februar 1922 für den Anschluß an Polen entschieden. Der unabhängige litauische Staat akzeptierte diese Angliederung allerdings nie und erklärte Wilna im Jahre 1928 zu seiner Hauptstadt. Kaunas (Kowno) bekam lediglich die Funktion einer provisorischen Hauptstadt. 1938 erzwang Polen von der Regierung in Kaunas mittels eines Ultimatums die Anerkennung der "Realitäten", als es sah, daß Litauen in der Memelfrage dem Druck Deutschlands nachgab. Jedoch währte auch dieser Zustand nur kurze Zeit: Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Ostpolen infolge des Hitler-Stalin-Paktes wurde das Gebiet an Litauen zurückgegeben, und mit der zweiten Unabhängigkeit der Litauer ist die Stadt wieder Hauptstadt einer freien baltischen Republik geworden.

Den Hintergrund des aktuellen Sprachenkonflikts bildet die Tatsache, daß in der Kernstadt Wilna die Polen die Mehrheit stellen und ein erheblicher Prozentsatz von ihnen nicht bereit ist, die litauische Sprache zu erlernen. Diese mangelnde Integrationsbereitschaft wird von den Litauern oftmals dadurch quittiert, daß man die eigenen Polnischkenntnisse zurückhält.

Noch ist unvergessen, daß die Führer der polnischen Minderheit der Region beim Moskauer Putschversuch Ruzkojs und Chasbulatows den Altkommunisten die Stange hielten, während sich gleichzeitig das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in Litauen für die Unabhängigkeit des Landes aussprach.

Kürzlich kommentierte der litauentreue Pole Czeslaw Okinczyc, dessen Unterschrift sich auch unter der litauischen Unabhängigkeitserklärung findet, daß das Hochspielen der Sprachenfrage nur ein Vorwand sei, um Unruhe zu stiften.

Aus der Sicht Okinczycs sind die Beziehungen insgesamt positiv, und ein "voreiliger" Beschluß, wie er in Wilna getroffen worden sei, habe nur wenig praktischen Nutzen, während er umgekehrt eine Menge Konfliktstoff hervorrufe. Der polnische Minderheitenvertreter forderte die Stadtverwaltung von Wilna auf, sich lieber in der täglichen Routine für Verbesserungen einzusetzen, statt sich in staatsrelevante Fragen einzumischen.

In jedem Fall muß die Frage gestellt werden dürfen, warum von der EU-Kommission in Litauen mit der Lupe nach Menschenrechtsverletzungen in der Minderheitenfrage gesucht wird, während andererseits Polen, das als nächster Beitrittskandidat gehandelt wird, keinerlei Fragen in diese Richtung zu hören bekommt. Und dies, obwohl es den dort beheimateten Litauern viel schwerer gemacht wird, ihre eigene Kultur zu leben, als dies bei den Polen im Wilnaer Gebiet der Fall ist.


 
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