© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   06/98  30. Januar 1998

 
 
Vor 30 Jahren: Als die FDP nach links kippte / Die Interessen der Banken und der Industrie spielten eine große Rolle als bisher vermutet
Der Sturz von Mende war das Ende einer nationalen Partei
von Hans B. von Sothen

Der 30. Januar 1968 ist in den deutschen Geschichtsbüchern nicht als historisches Datum verzeichnet. Kaum eine Zeitung wird es in diesen Tagen für nötig halten, über jene Vorgänge von vor dreißig Jahren zu berichten. Dennoch ist damals Geschichte geschrieben worden. Deutsche Geschichte.

Es war ein scheinbar ganz alltäglicher Vorgang: Die FDP versammelte sich zu ihrem Parteitag in Freiburg. An die Stelle von Erich Mende war Walter Scheel als Parteivorsitzender gewählt worden. Hans-Dietrich Genscher rückte zu einem der stellvertretenden Parteivorsitzenden auf. Beide waren eigentlich alte Bekannte im Bonner Polit-Business: Scheel war schon 1950 bis 1953 Landtagsabgeordneter in Düsseldorf gewesen und saß seit 1953 im Bundestag; 1961 bis 1966 war er Bundesminister im eben für ihn eingerichteten Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Genscher war seit Jahren Bundesgeschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion. Kein Mensch wäre damals auf die Idee gekommen, hier eine Richtungsentscheidung zu vermuten oder gar einen "Kurswechsel", wie es der damals ebenfalls ins Präsidium gewählte Linksliberale Karl Moersch später einmal nennen sollte.

Aus Nordrhein-Westfalen kamen für diesen "Kurswechsel" die ersten Warnsignale. In den Landtagswahlen am 11. Juli 1966 waren zwar erneut die CDU mit ihrem Ministerpräsidenten Franz Meyers zusammen mit der FDP und deren populären Parteiführer Willi Weyer eine Koalition eingegangen, aber es krachte hörbar im politischen Gebälk. Zusammen hatten die Koalitionäre etwas über ein halbes Prozent mehr als die SPD. Die Medien liefen zusammen mit den Sozialdemokraten Sturm gegen diese "Koalition der Verlierer". Auch innerhalb der FDP, die leicht dazugewonnen hatte, kam es zu Auseinandersetzungen über die Fortsetzung der Koalition.

Die Sozialdemokraten und Gewerkschaften waren aufgebracht, weil nicht genügend Unterstützung und Subventionen an die Kohle- und Stahlindustrie geflossen seien. Aber auch die Industrie an Rhein und Ruhr, traditionell eine Domäne der CDU, wurde unruhig. Die Verantwortung für die Wahlschlappe wurde Bundeskanzler Erhard angelastet. Der FDP-Bundesschatzmeister Hans Wolfgang Rubin griff Erhard rüde an. Dieser Angriff traf den Kanzler tief. Rubin war einer der politischen Drahtzieher des äußerst einflußreichen Düsseldorfer Industrieklubs. Hier bahnte sich ein politisches Erdbeben an, das spürte Erhard. Er informierte daraufhin Mende, daß er erfahren habe, daß ein kleiner Kreis um Walter Scheel, Willi Weyer und aus Vertretern der Industrie einen Koalitionswechsel der FDP zur SPD vorbereite. Es seien, so Erhard, ähnliche Tendenzen zu beobachten wie 1956 beim Sturz des CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold. Schon damals hatte der FDP-Landesvorstand unter Führung der "Jungtürken" Willi Weyer, Walter Scheel und Wolfgang Döring den CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen per Mißtrauensvotum abgewählt, und die FDP ging zur SPD. Nun bemühe sich, so Erhard weiter, neben Rubin auch der Rechtsanwalt von Eichborn aus der Firma Mannesmann (Eichborn und der FDP-Minister Horst-Ludwig Riemer, der übrigens die eigentlich treibende Kraft dabei war, hatten in Düsseldorf eine gemeinsame Anwaltskanzlei) um eine SPD/FDP-Koalition in Düsseldorf und auch in Bonn, da sich die Eisen- und Stahlindustrie in einer solchen Koalition bessere Ost-Geschäfte verspreche als mit der CDU, die sich seinerzeit beim Röhren-Embargo den amerikanischen Wünschen unterworfen habe.

Erhard hatte den Nagel auf den Kopf getroffen; genau das war der Grund. Die Düsseldorf-Connection sollte nicht nur für Nordrhein-Westfalen, sondern auch für die Politik der Bundesrepublik noch eine zentrale Rolle spielen.

Doch in Bonn war man noch nicht reif für eine SPD/FDP-Koalition. Auf ihrem Nürnberger Parteitag im Juli 1966 hatte sich die FDP ausdrücklich gegen jede Steuererhöhung festgelegt. In mühsamen und harten Koalitionsverhandlungen über den Bundeshaushalt für das Jahr 1967 ließen sich die FDP-Minister dann doch auf einen Kompromiß mit der CDU/CSU im Kabinett Erhard ein, der Steuererhöhungen zwar nicht vorsah, sie jedoch auch nicht ausdrücklich ausschloß. Eigentlich durchaus ein Sieg der FDP, aber diesmal spielte die FDP-Bundestagsfraktion nicht mit. Schon einmal, Anfang der 60er Jahre, als Mende verlauten ließ, er werde nicht in eine Regierung Adenauer eintreten (man stritt sich, ob er nur für sich oder für die ganze FDP gesprochen habe), war man als "Umfallerpartei" bezeichnet worden, ein Kainszeichen, das die Partei nicht wieder los wurde. Als die Bild-Zeitung dann auch noch schlagzeilte: "FDP fiel wieder um!", lagen die Nerven der FDP endgültig blank. Die Fraktion glaubte, Härte zeigen zu müssen, lehnte den Kompromiß ihrer eigenen Minister rundheraus ab und zwang sie zum Rücktritt. Das war vor allem auf das Betreiben Hans-Dietrich Genschers und von Bundesgeschäftsführer Hans Friderichs zurückzuführen. Es war das Ende der CDU/FDP-Koalition und es war das Ende der Regierung Erhard. Der neue Mann der CDU/CSU hieß Kurt Georg Kiesinger.

Der Fall der Koalition am 27. Oktober 1966 kam vordergründig überraschend. Der Grund war sicher zum Teil vorgeschoben. Eine Lappalie, vielleicht eine Sollbruchstelle. Ein Grund lag in der Vertrauenskrise in der Frage der Deutschlandpolitik; das alte FDP-Thema. Und natürlich auch in der Tatsache, daß die FDP bei Wahlen dauernd Stimmen an die CDU verlor und ihr Einfluß in der Koalition entsprechend sank. In der CDU wurden solche Veränderungen sehr genau gewogen. Bei den nun folgenden Koalitionsverhandlungen spielte man auf Zeit, um die Ergebnisse der bayerischen Landtagswahlen am 20. November 1966 abzuwarten. Hier erlitt die FDP mit 5,1 Prozent eine verheerende Niederlage, denn es war ihr nicht gelungen, die damals gültige bayerische Sperrklausel von 10 Prozent in einem der Wahlkreise zu erreichen. Statt ihr gelangte die NPD mit sensationellen 7,9 Prozent (Wahlkreis Mittelfranken: 11,2%) erstmals in ein Landesparlament.

Schon damals gab es (unter Mende!) Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene zwischen SPD und FDP. Aber man hätte nur eine sehr knappe Mehrheit von 251 gegenüber 245 Mandaten bei der CDU/CSU gehabt. Und Mende konnte keineswegs garantieren, daß auch alle FDP-Abgeordneten für Willy Brandt als Kanzler stimmen würden. Vor allem aber war Herbert Wehner, der die "Umfallerpartei" zutiefst verachtete, ein glühender Gegner dieser Koalition, und so verlief der erste Anlauf zu einem SPD/FDP-Bündnis im Sande. In der CDU/CSU reagierte man sowieso nur noch gereizt auf die FDP-Kapriolen. So war der Weg frei für eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD.

Als Nebenprodukt des Ausscheidens der FDP aus der Regierung Erhard ergab sich allerdings eine Auflösung der erst vor einigen Monaten erneuerten CDU/FDP-Koalition in Nordrhein-Westfalen. Schon am 21. Oktober, dem Tag nach der Wahl in Bayern, begannen die Liberalen plötzlich die Fühler in Richtung SPD auszustrecken. Das Ergebnis: Weyers FDP ging zur SPD, der CDU-Ministerpräsident Franz Meyers wurde abgelöst, und Heinz Kühn von der SPD wurde neuer Ministerpräsident. Weyer wollte ursprünglich nicht mit der SPD koalieren. Aber im Düsseldorfer Industrieclub herrschte große Unzufriedenheit mit Meyers. Seitdem wird das bevölkerungsreichste Bundesland ununterbrochen bis heute von der SPD regiert.

Bundespolitisch aber war die FDP draußen vor der Tür. Auf diese Entwicklung war die Partei nicht vorbereitet. Man hatte sich selbst ein Bein gestellt. In den Meinungsumfragen fiel die FDP von einem Tief ins nächste. Im Bundestag sah sie sich als einzige Oppositionspartei mit 50 Abgeordneten 468 Abgeordneten der Großen Koaltion gegenüber. Damit hatte man noch nicht einmal eine Sperrminorität; man konnte keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuß oder eine außerordentliche Bundestagssitzung beantragen. Zwar war Kritik an der Großen Koalition in der Öffentlichkeit weit verbreitet. Aber diese Kritik machte sich immer mehr außerparlamentarisch Luft. In den Universitäten begann es zu gären. Und auf der rechten Seite war das Lager in hellem Aufruhr durch die unglaublichen Wahlsiege der NPD, die die FDP mancherorts schon überholt hatte. In diesem Zusammenhang spielte man in der Großen Koalition mit dem Gedanken, das Mehrheitswahlrecht einzuführen. Das hätte den Tod nicht nur für die NPD, sondern gleichzeitig natürlich auch dür die FDP bedeutet. Die FDP befand sich, daran konnte nun kein Zweifel mehr bestehen, in einer existenziellen Krise.

Die FDP befand sich in einer existenziellen Krise

Es mußte etwas Grundlegendes passieren, das spürten viele in der Partei. Der Status quo, den viele – durchaus nicht zu Recht – vor allem mit Mende in Verbindung brachten, sollte nicht andauern. Wo es vor allem hakte, so meinte man bei der FDP, war die Deutschland- und Ostpolitik, und das war das ureigene politische Terrain der Liberalen. Die CDU hatte unter ihren Außenministern Brentano und Schröder, das war einhellige Meinung in der FDP, Deutschland in eine Isolierung getrieben. Die Hallstein-Doktrin, nach der mit jedem Staat, der diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahm, von Westdeutschland aus diplomatisch gebrochen würde, erwies sich für manche Kreise zunehmend als Hindernis, vor allem für den Osthandel. In der FDP dachte man seit den 50er Jahren wesentlich nationaler als in der CDU. So wurden dort deutschlandpolitische Ideen ventiliert, die oft genug auch Adenauers Westbindung zugunsten der deutschen Einheit in Frage stellten.

War sich im Gegensatz zum westorientierten Lager das nationale Lager (in das Kurt Schumacher von der SPD ebenso gehörte wie Thomas Dehler von der FDP) in den 50er Jahren noch weitgehend einig über die Frage der nationalen Einheit, so änderte sich das nach dem Bau der Mauer1962. Was lag also näher, als der FDP über die Deutschlandpolitik ein neues, schärferes Profilzu geben?

So zog der Parteivorstand erneut den Vorstandsreferenten Wolfgang Schollwer aus der Schublade, der dem Vorstand Anfang Januar 1967 ein Papier zur Ost- und Deutschlandpolitik vorlegte. Mende selbst hatte das Papier bereits im November 1966 in Auftrag gegeben. Was Schollwer schreiben würde, mußte Mende von vornherein klar gewesen sein, denn schon einmal, im Jahre 1962, hatte Schollwer, ebenfalls auf Mendes Veranlassung, einen Vortrag zur Deutschlandfrage und zur Ostpolitik gehalten, der damals in der FDP auf breite Kritik gestoßen war und zu einem wilden Wutausbruch von Thomas Dehler geführt hatte. Dehler hatte ihn damals minutenlang mit Vorwürfen und Anklagen überschüttet. Er nannte die Politik von Schollwer "desillusionierend" und kleinmütig.

Wer war Schollwer? 1951, kurz nach seinem Weggang aus der Sowjetischen Besatzungszone, war er in der FDP-Bundesgeschäftsstelle tätig geworden und hatte bald darauf das Ostbüro der FDP in West-Berlin übernommen, das den Kontakt zur liberalen mitteldeutschen Schwesterpartei LDPD aufrechterhalten sollte und eine Art Parteigeheimdienst war. Seit 1959 war er Chefredakteur der Zeitschrift Freie demokratische Korrespondenz (fdk) und galt als Parteilinker.

Nach dem Mauerbau 1962 schieden sich die beiden nationalneutralistischen Linien der FDP-Politik – zunächst fast unmerklich. Einerseits gab es populäre Männer wie Dehler, für den eine Anerkennung der DDR und die Anerkennung der Vertreibung nie und nimmer in Frage gekommen wären, andererseits die Linie um Vordenker Schollwer, Rubin, Walter Scheel und Willi Döring. Wurde Dehlers starkes Nationalgefühl in den 50er Jahren politisch geschickt durch den westorientierten Theodor Heuss ausgebremst und neutralisiert, so war er Mitte der 60er Jahre in seiner Partei durch seine schwierige Persönlichkeit bereits hoffnungslos isoliert. Nur in der unverbrüchlichen Ablehnung der Deutschlandpolitik der CDU ist man sich noch einig. Im Mai 1966 hatte sich Dehler in einem Brief geäußert, Adenauer sei dafür verantwortlich, daß "alle Ansätze der deutschen Wiedervereinigung verdorben" worden seien, und der führenden Schicht um Adenauer machte er zum Vorwurf, "das gesunde, selbstverständliche nationale Gefühl ertötet" zu haben. Die deutsche Einheit zu wollen, das war noch in den 60er Jahren überall Grundkonsens. Die Frage war, wie man die Schritte zur nationalen Einheit realistischerweise anlegen sollte. In der FDP gab es Kreise, die die Sowjetunion stärker mit einbeziehen wollten. Mende: "Der Schlüssel liegt in Moskau!" Nur war das mit der CDU nicht zu machen. Scheel setzte hingegen auf die "Einbettung" der Einheit in die europäische Frage. Das stieß auf Widerstand Dehlers. Mende glaubte, daß die Westmächte kein Interesse an der deutschen Einheit hätten. Es gebe, so Mende, überhaupt nur einen Weg: Moskau die DDR abzukaufen – und sei es um jeden Preis, möglicherweise auch den der Hergabe seiner Heimatstadt Königsberg.

Es wurde aber sehr wohl schon früh überlegt, Politik auch direkt mit der DDR zu machen. Immer gewagtere und unglaubwürdigere Konstrukte wurden entwickelt: etwa das der deutschen Einheit, die über die Anerkennung der DDR führen sollte. Schließlich wollten manche die Einheit ganz aufgeben. In der deutschen Frage schien es nicht vor und nicht zurück gehen zu wollen. Das zerrte an den Nerven. Also war es wohl am besten, das Problem kurz und schmerzlos zu beenden, indem man die DDR anerkannte, dann würde man endlich Ruhe in dieser leidlichen Frage haben und könnte, was den Osthandel und die Reiseerleichterungen anging, endlich "nach vorn sehen" – so glaubte man. Über die Gebiete jenseits von Oder und Neiße wurde sowieso nur noch in den Sonntagsreden gesprochen.

Das war die Situation, auf die Schollwers Papier von Januar 1967 traf. Noch einmal traten hier alle seine Thesen von 1962, diesmal aber ohne jedes verschleiernde Beiwerk, zutage. Die Botschaft hieß: Anerkennung der DDR, Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, Anerkennung der Ergebnisse der Vertreibung. Auch diesmal blieb das Papier im Vorstand heftig umstritten. Die Überlegungen sollten eigentlich intern bleiben. Doch schon bald – Beobachter in der FDP vermuteten – aus dem Umkreis von Schollwer selbst, wurde das Papier dem Stern zugespielt, der es Anfang März ’67 veröffentlichte. Wolfgang Rubin, FDP-Bundesschatzmeister und Mitglied des Düsseldorfer Industrieclubs und Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), der wie Schollwer die Interessen von Preußen-Elektra und RWE und anderen vertrat, legte sofort mit einem gleichlautenden Artikel in der Parteizeitung liberal nach. Das war zeitlich exakt plaziert und sah sehr nach Absprache aus. Das Thema sollte offenbar rechtzeitig für den Parteitag Anfang April 1967 in Hannover zum Kochen gebracht werden. Mende war verärgert. Gleichzeitig erinnerte er sich an die Warnung von Ludwig Erhard, gegenüber Scheel und Weyer auf der Hut zu sein. Er mag gespürt haben, daß dies der Beginn einer innerparteilichen Fronde gegen ihn sein mochte. Es schien, als ob Schollwer erneut den Minenhund für Leute spielte, die sich nicht selbst kompromittieren wollten, daß er die Bugwelle war für andere, die sich im Hintergrund hielten. Aber für wen? Mende befürchtete zunächst vor allem, daß der ohnehin angeschlagenen FDP nun der gesamte rechtsnationale Flügel wegbrechen könnte, und das wäre wohl nach der damaligen Lage der Dinge das Aus für die FDP gewesen. Mende reagierte daher auf Schollwers Vorschläge derart negativ, daß er sich selbst von den von ihm bisher selbst mitgetragenen Positionen der "progressiven" Deutschlandpolitik zurückzog. Mende konnte aber für seine klar ablehnende Position gegenüber Schollwers Thesen auf dem Parteitag nur eine knappe Mehrheit erringen. Ein Zeichen dafür, daß bereits damals in der FDP ein Umschwung stattgefunden hatte.

In Hannover prallten die alten nationalliberalen und die linksliberalen Positionen unversöhnlich aufeinander, insbesondere in der Frage der Deutschland- und Ostpolitik. Schollwer und Rubin hatten über die Medien ganze Arbeit geleistet. Dennoch trat ein Wechsel an der Spitze nicht ein, für den sich insbesondere Hildegard Hamm-Brücher und der später als Stasi-Spitzel enttarnte William Borm einsetzten.

Nach dem Hannoveraner Parteitag, am 16. Juli 1967, trat plötzlich Dehler unvermittelt für einen Wechsel an der Parteispitze ein. Er setzte sich für Walter Scheel ein, dessen wirtschaftliche und politische Kompetenz er lobte. Das war eher eine Breitseite gegen Mende als ein Lob auf Scheel. Das Ganze wurde aber durch die Tatsache wichtig, daß Dehler drei Tage nach diesen Äußerungen starb und eine Ablösung Mendes durch Scheel nun überall als Dehlers politisches Testament gehandelt wurde. Dies dürfte den Wechsel zu Scheel maßgeblich mitbeeinflußt haben. Begleitet wurde dies durch eine Pressekampagne gegen Mende, insbesondere von den Zeitschriften Stern, Spiegel und den Zeitungen Frankfurter Rundschau und der Zeit. Alle diese Zeitungen hatten bereits früher Mende über Henri Nannen, den Chef des Stern, ein Angebot unterbreitet, daß sie, wenn er, Mende, sich positiv für die Anerkennung der DDR ausspräche, ihn gemeinsam unterstützen wollten. In Augsteins Spiegel hatte bereits im Oktober 1967 gestanden: "Wir sind die ‘Anerkennungspartei’. Und wir wollen uns diese Auszeichnung reichlich verdienen, wir wollen die Plakette mit Stolz tragen."

Das eigentliche Ende der Ära Mende wird eingeleitet durch die sogenannte IOS-Affäre. Mende wollte sich für sein Alter noch ein zweites finanzielles Standbein schaffen. Da habe ihm vor allem Scheel, der sich gern als Finanzexperte gab, das Investmentmodell des Amerikaners Bernard Cornfeld, Geschäftsführer der Investmentfondsgruppe IOS, empfohlen; böse Zungen in der nordrhein-westfälischen FDP behaupten, nicht ohne Hintergedanken, doch das dürfte sich das wohl kaum belegen lassen. Es gab tatsächlich zu jener Zeit weder ein Unverhältnis zwischen Scheel und Mende noch grundlegende politische Differenzen. Die FDP war gleichzeitig eine wichtige Werbeagentur für den Investmentfonds. Potentielle Kunden wurden über die Parteischiene geworben, das hieß, als die IOS bankrott ging, war nicht nur Mende selbst am Ende seiner finanziellen Kräfte, sondern auch viele einfache Parteimitglieder standen vor dem Nichts. Das war eine Katastrophe. Auch wenn Mende am Ende des Investmentfonds natürlich keinerlei Schuld traf, war seine Position auch auf dem rechten FDP-Flügel nahezu unmöglich geworden. Im September 1968 nominierte Mende Walter Scheel zu seinem Nachfolger. Zwar war als ursprünglicher Nachfolger Willy Weyer vorgesehen. Doch der lehnte ab, teils, weil er in der neuen Koalition mit der nordrhein-westfälischen SPD der Macher sein konnte, aber auch, weil der Industrieclub bereits auf den beeinflußbaren Scheel gesetzt hatte.

Der Freiburger Parteitag, auf dem Mendes Abwahl stattfinden sollte, begann zunächst mit einem Eklat. Vor den Toren hatten sich demonstrierende Studenten, zu einem bedeutenden Teil auch Jungdemokraten, mit Lautsprecherwagen versammelt und beabsichtigten, in das Gebäude einzudringen und eine "Diskussion" zu erzwingen. Rudi Dutschke wurde von den Jungdemokraten angekarrt und sorgte dort pflichtschuldigst für Aufruhr. Plakate waren zu sehen wie "Lieber Ende mit Mende als Mende ohne Ende!" Schließlich war Scheel gewählt, aber immer noch mit der Option, mit Kiesinger zu koalieren.

Im Industrieclub, im Haus des Arbeitgeberverbandes, bei dem übrigens auch der spätere Bundesinnenminister Gerhart Rudolf Baum arbeitete, trafen sich diejenigen, die in der Industrie und bei den Banken wirklich das Sagen hatten mit Politikern. Vertreter von RWE, Mannesmann, Hoechst und viele andere. Der Unternehmensberater Gerhard Kienbaum etwa, langjähriger Finanzier der FDP. Otto Graf Lambsdorff, vormals FDP-Kreisvorsitzender von Düsseldorf und Vorstandsmitglied der Victoria-Versicherung, als Vertreter der Banken. Was für ein Interesse hatten die Banken am Regierungswechsel? Die alte Ostpolitik begann in erheblichem Maße die Interessen der Industrie und der Banken zu behindern. Man suchte Konfliktbereinigung und billige Rohstoffe. Sie wollten den risikofreien Osthandel, der abgesichert war mit Hermesbürgschaften. Bei den deutschen Banken wurde später die 68er Bewegung als Lappalie abgetan. Gut: sie mochten das intellektuelle Klima verändert haben, aber nicht die Finanzflüsse.

In der CDU hatte man die Bedeutung dieser ganzen Entwicklung noch immer nicht erkannt. Als Kiesinger im Oktober ’68 Walter Scheel in einem Gespräch triumphierend vorhielt, er habe verläßliche Informationen, daß immer noch 65 Prozent der FDP Anhänger seiner, Kiesingers, Politik zustimmten, gab ihm Scheel zu seinem großen Erstaunen sogar recht. Aber diese Leute schwärmten jetzt sowieso ab, meinte der FDP-Chef. Er aber wollte der FDP neue soziale Schichten erschließen: statt den aussterbenden Selbständigen wolle man die kritische Jugend und die neuen Aufsteiger, den gehobenen Mittelstand und die leitenden Angestellten für sich gewinnen. Kiesinger war erschüttert. "Na dann Gott befohlen!", rief er dem Zuversicht ausstrahlenden Scheel nach.

Konnte die neue, linke FDP in der nächsten Zeit so schnell neue Wählerschichten erschließen, wie die alten abwanderten? Das war jetzt die alles entscheidende Frage. Eine Frage auf Leben und Tod für die liberale Partei. Scheel entschloß sich, die 68er-Bewegung für sich nutzbar zu machen. Der alte nationalliberale Flügel war über Scheels Hinwendung zu den 68ern schockiert. Es galt nun, unter allen Umständen die Nationalliberalen wenigstens solange zu halten, bis das Wählerreservoir von linksliberalen Stammwählern aufgefüllt waren. Hätten sich damals alle Nationalliberalen abgewandt, wäre Scheels neuer Kurs nie durchgekommen. Es ging also lediglich darum, bis zur Bundestagswahl weitere spektakuläre Austritte zu verhindern.

Aber die sichtbare Umorientierung der FDP, die bereits mit der Wahl Gustav Heinemanns (SPD) zum Bundespräsidenten im März 1969 durch die FDP einsetzte, wurde vollends deutlich durch die Wahlkampfslogans der FDP für die Bundestagswahl 1969. "Wir schaffen die alten Zöpfe ab!". Da wurde von "Machtwechsel" oder "Partnerschaft für den Fortschritt" gesprochen. Alles Parolen, die eindeutig auf Umorientierung zur SPD deuteten. Beschlossen wurde die FDP-Koalition jedoch erst nach der Heinemann-Wahl, kurz vor der Diskussionsrunde der Parteivorsitzenden im Fernsehen. Ausschlaggebend war, daß die FDP in den Meinungsumfragen unter der 5-Prozent-Marke gelandet war. Die zentrale Rolle, bei der vor allem Genscher ausgespielt wurde, spielte hierbei Karl Moersch.

Die FDP rutschte schließlich mit etwa 5,8 Prozent noch knapp in den Bundestag. Eine erneute Große Koalition hätte den Tod der FDP bedeutet, denn die Pläne zur Wahlrechtsänderung lagen schon in der Schublade, der Eintritt der NPD in die Parlamente sollte unter allen Umständen verhindert werden. Und das bedeutete eine Koalition mit der SPD. Dazu waren aber bei weitem nicht alle FDP-Abgeordneten bereit, vor allem nicht Mende. Mindestens 10 Abgeordnete waren zunächst gegen eine Koalition mit des SPD. Das hätte für Willy Brandt nicht gereicht. Unter den Gegnern fanden sich außer Mende nicht nur Namen wie Kühlmann-Stumm, Starke und Zoglmann, sondern auch der spätere Landwirtschaftsminister Josef Ertl und Ernst Achenbach, Leiter des außenpolitischen Ausschusses des Bundestags.

Achenbach, der 1940–1943 Leiter der politischen Abteilung der deutschen Botschaft im besetzten Paris gewesen war, bekam von Beate Klarsfeld, die sich vor allem durch eine spektakuläre Ohrfeige gegen Bundeskanzler Kiesinger und ihre Rufen "Nazi, Nazi!" hervorgetan hatte, die Zusage, daß die gegen ihn gestartete Pressekampagne abgeblasen würde. Auch Ertl, der noch am Tag nach der Bundestagswahl meinte, er könne auf keinen Fall für Brandt stimmen, besann sich eines anderen. Mende vermutete später, der Grund sei gewesen, weil er das Landwirtschaftsministerium angeboten bekommen habe. Der Abfall von Ertl hatte Mende wohl am schwersten getroffen. Mann für Mann gingen aus den unterschiedlichsten Gründen die rechten Liberalen zu Scheel über. Eine wichtige und noch kaum bekannte Rolle hat dabei William Borm gespielt. Er, nicht der alte Verbindungsmann zwischen FDP und SPD, Hans-Günther Hoppe, war es, der Willy Brandt in jenen Tagen auf das genaueste über die Vorgänge in der FDP auf dem laufenden hielt und genau informierte, wo bei jedem einzelnen FDP-Abgeordneten anzusetzen war.

Mende und die kleine Gruppe um ihn wurde in der eigenen Partei zusehends isoliert. Mende, Starke und Zoglmann traten 1970 zur CDU über, Kühlmann-Stumm 1972. Ein überregional bedeutender und einflußreicher nationalliberaler Flügel ist in der FDP seitdem nicht mehr existent.


 
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