© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/98  23. Januar 1998

 
 
Reportage: Im östlichen Polen blüht die Kriminalität / Zusammenarbeit mit deutschen Behörden läuft schleppend
Der wilde Westen in Polens Osten
von Paul Leonhard

Eine orange Warnleuchte blinkt auf einem alten russischen Jeep. Zwei Kleintransporter stehen am Straßenrand, ein weiterer im Feld. Im Straßengraben liegt ein Polski-Fiat quer. Dessen Fahrer starrt vor sich hin, während andere Männer eilig die Ladung aus dem von der Fahrbahn abgekommenen Transporter auf die beiden anderen Fahrzeuge verladen.

Unfall oder Überfall? Polizeiwachtmeister Zbigniew M. zuckt mit den Schultern. Er mischt sich lieber nicht ein. Erst vergangene Woche sind zwei seiner Kollegen ums Leben gekommen. Der eine wurde bei einem Überfall getötet, der andere bei einer Verkehrskontrolle erschossen.

Die Fernstraße 18 zwischen Warschau und Bialystok nahe der weißrussischen Grenze ist ein heißes Pflaster. Überfälle gehören hier zum Alltag. Erst vor zwei Tagen habe man einen leeren Lastwagen auf einem Rastplatz entdeckt, erzählt Kommissar Andrzej Grabowski, Chef der Kriminalpolizei in der Wojewodschaft Bialystok. Niemand weiß, was passiert ist, wo der Fahrer ist. "Wir wissen auch nicht, wie viele derartige Fälle es gibt", räumt Grabowski ein.

Ebenso unklar ist, nach welchem System die Gangster vorgehen. Ein vor über einem Jahr als gestohlen gemeldeter belgischer Volvo-Laster ist jetzt an der Grenze gestoppt worden, andere Fahrzeuge sind innerhalb von zwei Tagen da. 1996 wurden in der Wojewodschaft offiziell 16 derartige Überfälle registriert. Im vergangenen Jahr waren es 30. Auf der anderen Seite der Grenze soll die Situation nicht anders sein.

Deutsche Lastzüge fahren mit bewaffnetem Schutz

"Die Banden sind hochspezialisiert", weiß Inspektor Piotr Jan Malesa. Während einige Kriminelle die Straßen beobachten, übernehmen andere den Überfall. Meistens sind die Räuber genau über die Höhe der Beute informiert, die sie erwartet. Einen neuen Höhepunkt erreichte die Kriminalität am 21. Oktober vorigen Jahres. Maskierte Bewaffnete drangen in der Nacht in eine Pension ein und raubten die Gäste aus. Gold und etwa 10.000 Mark waren die Beute. "Das ist für die wenig", erklärt Oberinspektor Zbigniew Makuch, Kommandeur der Wojewodschaftspolizei.

Deutsche Lastzüge fahren spätestens ab Warschau mit bewaffnetem Schutz. Private Sicherheitsfirmen begleiten die Konvois mit ihrem Pkw und halten über Funk Kontakt untereinander, aber auch mit der Polizei. Ein Allheilmittel sind die privaten Sheriffs allerdings nicht. Es sei schon vorgekommen, daß Geldtransporte von den eigenen Sicherheitsleuten überfallen wurden, sagt Polizeigeneral Edward Pietkiewicz. Die Brutalität der Kriminellen wächst ständig. Schon bei kleinen finanziellen Rückständen ihrer Kunden setzt die Mafia rücksichtslos Waffen und Sprengstoff ein. Autos und Eingangstüren fliegen in die Luft.

Um jährlich zehn Prozent steigt die Zahl der Verbrechen in Polen. Im vergangenen Jahr waren es sogar 12 Prozent. Knapp 21.000 Raubüberfälle, 35.500 Kfz-Diebstähle und 762 Morde wurden in den ersten neun Monaten registriert. Lediglich die Zahl der Fälschungen ist konstant geblieben.

Die hohe Aufklärungsrate von 85 Prozent bei Tötungsdelikten verdanke man nur der Tatsache, daß viele Verbrechen innerhalb der Familien stattfinden, sagt Hauptinspektor Marek Zajder, Direktor des Kriminalinstituts an der Polizeihochschule in Ortelsburg (Szezytno). Vor allem Jugendliche töten aus Langeweile. "Es geht nicht um Geld, nur um Lust", konstatiert Pietkiewicz.

Bialystok mit seinen rund 300.000 Einwohnern ist der größte Hauptumschlagplatz für Waren aller Art zwischen der Weichsel und der weißrussischen Grenze. "Die Stadt ist Spitze, wenn es um die Kriminalität geht", sagt Makuch. Rund 14.500 Straftaten wurden in den ersten neun Monaten des vorigen Jahres registriert. Das sind 17 Prozent mehr als im Jahr davor.

Auf dem Hauptmarkt im Zentrum von Bialystok preisen rund 10.000 Händler ihre Waren an. Mehr als 3.000 Stände sind registriert. Die Kommune kassiert monatlich pro Person eine Gebühr von 80 bis 100 Zloty. Trotz ständiger Präsenz ist der Markt für die Polizei nur schwer zu kontrollieren. Vor allem Touristen aus dem Baltikum, dem Königsberger Gebiet, Weißrußland und der Ukraine kommen, um im Osten heiß begehrte Waren wie Computer, Haushaltselektronik, Kleider, Kosmetik und Fleisch einzukaufen. Viele der Geschäftsleute kommen in Kleinbussen über die Grenzübergänge in Kuznica, Bobrowniki und Hajnowka. Bis zu 100.000 Dollar führen dabei einzelne Händler mit sich. Auf sie haben es die Räuber abgesehen.

Überfälle im Grenzgebiet werden zur Bedrohung

Die meisten Täter gehören zu polnischen Familienclans, die auf beiden Seiten der Grenze leben. "Raubüberfälle werden immer mehr zu einer Bedrohung", versichert Oberkommissar Janusz Rybakowski, Leiter des Grenzkommissariats in Sokolka. Neun Überfälle weist die Statistik allein in diesem Gebiet aus. Die waldreiche Gegend sei geradezu ideal für den Straßenraub, sagt Unterinspektor Stanislaw Pawlik vom Grenzübergang Hajnowka. Allein an diesem, nur für den kleinen Grenzverkehr zugelassenen Übergang entdeckte die Polizei 75 vermutlich gestohlene Fahrzeuge und beschlagnahmte 25. "Wir haben nur 48 Stunden zur Verfügung, um die Papiere zu überprüfen", erklärt Pawlik die Diskrepanz.

Die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden laufe leider nur schleppend, kritisiert der Chef der Abteilung Organisierte Kriminalität in Bialystok. Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden bearbeite nur in deutscher Sprache formulierte Anfragen. Bis in Bialystok ein Dolmetscher zur Verfügung steht, ist die gesetzliche Frist meistens verstrichen und der Weg für die Autodiebe nach Weißrußland frei.

Auf anderem Gebiet scheint die Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland zu funktionieren. Mindestens zweimal haben verdeckte Ermittler des Bundeskriminalamtes in Polen operiert. Parallel dazu wurden Kriminalisten aus Stettin in der Berliner Szene aktiv. Für die Kooperation gebe es keine gesetzlichen Hindernisse, versichert Inspektor Zdieslaw Czarnecki, Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität der Hauptkommandantur in Warschau: "Was uns begrenzt, ist die Angst vor dem Versagen."

Die polnische Polizei verfügt über ein anderes System bei der Aufklärung. Sie kann ohne Einschaltung der Staatsanwaltschaft weitreichende Maßnahmen durchführen. Wichtig sei es aber auch, die Vorschriften der anderen Länder genau zu kennen, sagt Czarnecki. Stolz ist der Inspektor auf die Festnahme zweier rumänischer Krimineller, die in Deutschland mehrere Morde begangen hatten. Nach Informationen aus Deutschland konnten die beiden mit Hilfe von BKA-Beamten vor der Botschaft Rumäniens in Warschau verhaftet werden, wo sie sich neue Papiere verschaffen wollten. Innerhalb von 48 Stunden waren alle Auslieferungsdokumente vorbereitet und die Staatsanwaltschaft verständigt.

Polizeibeamte erhalten eine miserable Bezahlung

Den Weißrussen, die im legal gekauften Auto von Deutschland in ihre Heimat fahren, nutzt die deutsch-polnische Zusammenarbeit wenig. Auf sie lauern kurz vor der weißrussischen Grenze die eigenen Landsleute. Nach einer tausend Kilometer langen Fahrt sind die Männer ohnehin übermüdet und werden ein leichtes Opfer für die Gangster. Zumeist nehmen sie drei Fahrzeuge der Räuber in die Zange und blockieren die Weiterfahrt. "Die Täter nehmen alles, Geld, Auto, Papiere", sagt Unterinspektor Pawlik. Während das Opfer geknebelt und gefesselt im Wald auf seine Retter wartet, können die Straftäter das Land verlassen.

"Wir müssen immer den Kopf hinhalten", schimpft derweil Streifenpolizist Zbigniew im blauen Polonez. Wütend dreht er an den Knöpfen. Das Funkgerät im Streifenwagen ist wieder einmal defekt. "Es interessiert den Kommandanten in Warschau nicht, was mit den kleinen Polizisten ist", stimmt ihm sein Kollege Jan zu. Die Bezahlung sei mit umgerechnet 600 Mark im Monat miserabel.

Klagen für die General Pietkiewicz kein Verständnis hat. Auch ein Arzt verdiene in Polen nicht viel mehr, und Lehrer seien viel schlechter dran. Immerhin dürfen Ärzte und Pädagogen nach Feierabend dazuverdienen. Ein Polizist darf keinen Nebenjob haben. "Die Männer müssen erholt zum Dienst kommen", betont Pietkiewicz.

Zbigniew und Jan stoppen ihren Polonez erst einige Kilometer hinter dem Unfall des Kleintransporters. Hier stehen eine Handvoll Prostituierte, von denen sie sich die Papiere zeigen lassen. Die Mädchen sind allesamt aus Rußland und besitzen Touristenvisa. Prostitution ist in Polen nicht strafbar, solange die Frauen nicht für einen Zuhälter arbeiten.

Der Streifenwagen fährt weiter. Vorbei an einem anderen Polonez, hinter dem zwei Kollegen mit einem Radargerät hantieren. "Für deutsche Touristen", grient Zbigniew. Die seien ungefährlich. Einen Bußgeldkatalog gibt es in Polen nicht. Jeder Beamte kann im eigenen Ermessen entscheiden, ob er fünf oder 5.000 Mark für ein Vergehen gegen die Straßenverkehrsordnung verlangt – oder beide Augen zudrückt.


 
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