© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/98  23. Januar 1998

 
 
Vertriebene: Finanzielle Sterbehilfe keine Alternative
Die letzte Chance
von Paul Latussek

Wenn es noch eines Beweises für die mangelnde Interessenvertretung bundesdeutscher Außenpolitik gegenüber den deutschen Heimatvertriebenen bedurft hätte – jetzt liegt er mit der wissenschaftlichen Ausarbeitung von Beata Ociepka von der Universität Breslau vor. In ihrer Untersuchung "Der Bund der Vertriebenen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland und sein Einfluß auf die deutsch-polnischen Beziehungen 1982 bis 1992" wird in seltener Offenheit dargestellt, wie sich die Politik in Deutschland von ihrer im Grundgesetz verankerten Verantwortung entfernt und so die völkerrechtlich abgesicherten Rechte der Heimatvertriebenen mißachtet hat.

Es lohnt sich, die Zusammenfassung dieser Ausarbeitung zu lesen. Nicht nur, um sich bestätigen zu lassen, daß auch andere Aktivitäten, zum Beispiel die deutsch-tschechische Erklärung und die bedauerliche Art und Weise ihres Zustandekommens sowie die darin enthaltene indirekte Anerkennung der Benesch-Dekrete, eben keine einmalige Fehlleistung deutscher Politik sind, sondern um zu erkennen, daß dies Bestandteile einer langfristig angelegten Politik sind und wie falsch doch die Hoffnung auf eine Interessenvertretung durch die etablierten politischen Parteien war. Frau Ociepka schreibt: "Zur ‘politischen Korrektheit’ in der Bundesrepublik gehört es nämlich spätestens seit Ende der 60er Jahre, jegliche Kontakte und ideologische Verwandtschaft mit dem BdV abzustreiten und zugleich volles Verständnis für polnische politische und ökonomische Probleme demonstrativ zu bekunden."

Zur Einschätzung der Vertriebenenvertreter in den etablierten Parteien wird festgestellt: "Augenfällig ist die Tendenz, auf die Aktivitäten im BdV zu verzichten, sobald man öffentliche Ämter übernimmt. Es ist anzunehmen, daß die Vertriebenenpolitiker die Standpunkte des BdV und der Regierung nicht mehr gleichzeitig vertreten können. In den Gesprächen mit den Unterhändlern vom polnischen Außenministerium gab man zu verstehen, daß die Bundesregierung bemüht ist, die Aktivitäten des BdV zu neutralisieren. Deshalb legte u.a. O. Hennig seine Funktion in der Ostpreußischen Landsmannschaft nieder, H. Sauer war nicht mehr bereit, sich im BdV-Vorstand zu engagieren. Bekannt sind auch die Begleitumstände des Rücktritts H. Koschyks als BdV-Generalsekretär. Die Ausübung öffentlicher Ämter ließ sich also mit der Tätigkeit im Rahmen des BdV nicht in Einklang bringen. (…)Doch selbst die 23 Abgeordneten, die gegen die Ratifizierung des deutsch-polnischen Grenzvertrages stimmten oder sich der Stimme enthielten, können kaum als ‘Vertriebenenfraktion’ bezeichnet werden."

Nach diesen Betrachtungen kommt Frau Ociepka zu der – für die Interessenvertretung der Vertriebenen – beschämenden Einschätzung ihrer Tätigkeit bis zum Jahr 1992: "Der BdV wurde nach der Wahlniederlage des BHE/GP im Bundestag nicht mehr repräsentiert. Das Prinzip der Überparteilichkeit und die Bemühungen, in allen Parteien Fuß zu fassen, ließ den BdV schließlich Ende der 80er Jahre in eine Isolation geraten. Nimmt man an, daß die Voraussetzungen für erfolgreiche Aktivitäten einer Interessengemeinschaft die Fähigkeit ist, auf Parteien und staatliche Institutionen Einfluß zu haben, so sind die Gründe für die Mißerfolge des BdV gerade in den mangelnden Mechanismen der Einwirkung auf die Parteien und deren zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber den Vertriebenenangelegenheiten zu finden."

Diese Einschätzung ist ein bedrückendes Urteil über die Verbandspolitik der Vertriebenen und enthält indirekt die Forderung nach Veränderung und Neuorientierung, soll Vertriebenenpolitik noch einen Sinn haben. Natürlich ist es gut, daß es eine polnische Wissenschaftlerin ist, die der deutschen Politik und den Vertriebenenvertretern den Spiegel vors Gesicht hält. Es ist kaum auszudenken, zu welchen Reaktionen es gekommen wäre, wenn die nicht unbekannten Tatsachen in gleicher Weise von einem Deutschen beschrieben worden wären.

Das Erkennen des bedauerlichen opportunistischen Verhaltens von Vertriebenenvertretern und der Fehler der Verbandspolitik in der Vergangenheit darf auf keinen Fall zur Resignation führen, da dazu im Gegensatz die vielen guten Leistungen der heimattreuen Landsleute aus allen Vertreibungsgebieten stehen. Zu diesen guten Leistungen gehören die wissenschaftliche Absicherung der Rechte der deutschen Vertriebenen auf ihre Heimat sowie die Erhaltung der Kultur der ostdeutschen und südosteuropäischen Siedlungsgebiete als Teil der deutschen Nationalkultur.

Zieht man aus der Analyse die notwendigen Schlußfolgerungen, so bleiben nicht viele Alternativen. Entweder schaffen es die Vertriebenen, dafür zu sorgen, daß eine bessere Deutschlandpolitik mit neuen politischen Kräften möglich wird, oder sie werden als Opfer einer vertriebenenfeindlichen Außenpolitik mit einem Mindestmaß an Sterbehilfe in Form von finanziellen Mitteln zur Pflege des Kulturerbes entrechtet sterben. Die Durchsetzung des Rechts auf die Heimat und das Eigentum in der Heimat – Rechte, auf die die Vertriebenen völkerrechtlich Anspruch haben – erfolgt nicht im Selbstlauf, sondern nur durch die Veränderung des politischen Willens, der deutschen Politik. Daran ist vor den Wahlen 1998, die für die Vertriebenen die letzte Chance sind, nicht zu denken!


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen