© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/98  23. Januar 1998

 
 
Kolumne
Prognosen
von Klaus Motschmann

Von einem Physikerkongreß um die Jahrhundertwende wird folgende Anekdote überliefert: Während einer Sitzungspause bemerkte einTagungsteilnehmer zufällig, daß die im Garten aufgestellten Zierkugeln auf ihrer Schattenseite heiß, auf der Sonnenseite hingegen kalt waren. Sofort suchten die im Garten versammelten Kollegen nach einer Erklärung für dieses Phänomen. Sie fanden sie nicht, waren aber sicher, daß sie sie finden würden. Tatsächlich fanden sie auch die Erklärung, als sie am nächsten Tage beobachteten, wie der Gärtner die Kugeln umdrehte, um ein einseitiges Verblassen der Farbschicht zu verhindern. Sie haben herzlich gelacht und sich nicht geniert, diese Erklärung als Lösung eines vermeintlich wissenschaftlichen Problems anzuerkennen. Auf Erfahrungen und auf den gesunden Menschenverstand sollten wir auf gar keinen Fall verzichten.

Zur Lösung dringender Probleme sollten wir uns dieser Binsenweisheit endlich wieder erinnern – und danach handeln! Hochqualifizierte Experten und Trendforscher, Futurologen und Prognostiker vermitteln immer neue Visionen und Prognosen, die teils Lösungen aller gegenwärtigen Probleme verheißen, teils weitere Verschärfung bis hin zum Untergang des "Weltraumschiffs" Erde. So wird zur Zeit die Schöne Neue Welt des Euro-Europas in allen Einzelheiten prognostiziert: über die wundersamen Wirkungen eines stabilen Euro auf die Entwicklung der Renten, den Abbau der Arbeitslosenzahlen, die soziale Harmonie in einer multikulturellen Gesellschaft, die Förderung der Familien und des Mittelstandes usw. Die Frage sollte aber doch erlaubt sein – sie ist aber zur Vermeidung von Zweifeln nicht erlaubt –, weshalb nun ausgerechnet in Europa mit seinen sehr unterschiedlichen Traditionen und Strukturen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen gelingen soll, was in Deutschland nachweislich allen Prognosen zum Trotz nicht gelungen ist. Es wurde weder die angekündigte geistig-moralische Wende vollzogen noch wurden die prognostizierten "blühenden Landschaften" geschaffen, es wurden weder die Arbeitslosenzahlen halbiert noch die Steuerreform durchgeführt.

Weshalb werden diese Erfahrungen nicht berücksichtigt? Weshalb diese Mißachtung elementarer Voraussetzungen verantwortlichen politischen Handelns? Warum immer neue Illusionen, die zu immer neuen Enttäuschungen führen müssen – und damit zu einem immer weiteren Verlust der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens?


 
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