© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/98  23. Januar 1998

 
 
Der Weg zum Nationalsozialismus: Die Rolle des SPD-Abgeordneten Paul Lensch
Nation statt Arbeiterklasse
von Josef Schüsselburner

Drei Jahre Weltrevolution", so hieß der Titel einer Veröffentlichung des SPD-Reichstagsabgeordneten Paul Lensch, die vor achtzig Jahren, im dritten Kriegsjahr des ErstenWeltkrieges erschien. Sie war der dritte Teil einer Trilogie, deren erster Teil 1915 unter dem Titel "Die deutsche Sozialdemokratie und der Weltkrieg" und deren zweiter Teil 1916 als "Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück" erschienen waren. Dem folgte am Ende des Krieges die Broschüre "Am Ausgang der deutschen Sozialdemokratie". Die Lektüre dieser Werke ist faszinierend, unabhängig davon, daß sich das eigene (und nicht vormundschaftlichen "Bewältigern" überlassene) Studium von Quellen immer als erkenntnisfördernd darstellt. Hier kann man nachvollziehen, wie aus einem internationalistischen Marxisten ein durchaus weiterhin marxistisch argumentierender nationaler Sozialist wird, den man sicherlich als Vorläufer einer Bewegung ansehen muß, welche sich eben nicht zufällig als "nationalsozialistisch" bezeichnet hat.

Auf dem linken Flügel der SPD stehend, gehörte Lensch zu der Minderheit in der SPD-Reichstagsfraktion, welche die Bewilligung der Kriegskredite verweigern sollte, die der deutschen Kriegführung die demokratische Legitimation gaben. Lensch vollzog dann jedoch bald eine Wende, wie sie bereits in der linksrevisionistischen Parteiströmung vorgezeichnet war, die der Politologe Abraham Ascher als "radical imperialists innerhalb der SPD" bezeichnet hat.

Auf der Basis einer der Imperialismustheorie Lenins verwandten Argumentation erkannte diese Strömung die von der SPD beeinflußte Situation des Deutschen Kaiserreiches als durchaus fortschrittlich an, wobei Deutschland die historische Aufgabe zugeschrieben wurde, gegenüber der englischen Weltherrschaft die Weltrevolution durchzusetzen. Aufgrund der in der allgemeinen Wehr- und Schulpflicht sowie der im allgemeinen Wahlrecht zum Reichstag verkörperten demokratischen Institutionen sei nirgendwo sonst die Emanzipation der Arbeiterklasse so weit vorangeschritten wie in Deutschland.

Die zum Ende des Klassenkampfes führende Emanzipation wurde dabei in der Konstituierung der nationalen Volksgemeinschaft verstanden, wobei das Augusterlebnis von 1914, die Verschmelzung von Nationalismus und Sozialismus, eine entscheidende Bedeutung erhielt. Durch dieses Erlebnis sei deutlich geworden, daß die Sozialdemokratisierung des politischen Lebens zu einer Nationalisierung der deutschen Arbeiterklasse geführt hätte.

Der Weltkrieg konnte bei dieser Perspektive in Übereinstimmung mit Marx, der den Krieg als Hebamme der Revolution ausgemacht hatte, als Weltrevolution verstanden werden; der Weltkrieg würde nämlich durch die immerwährende Vereinigung von Deutschland und Österreich, ungeachtet der noch offenen Verfassungsfrage, zum Großdeutschen Reich führen und damit den Traum der demokratischen Revolutionäre von 1848 verwirklichen. Insofern wurde der Erste Weltkrieg als Fortführung des Einigungskrieges von 1871 gesehen.

In der Frontstellung gegenüber Rußland war endlich Karl Marxens Traum von einem Revolutionskrieg gegen das reaktionäre Rußland erfüllt, dessen Niederschlagung verhindern würde, daß die deutsche Verfassungslage weiterhin unter Berücksichtigung russischer Interessen ausgestaltet werden müßte. Der Sieg über Rußland würde wiederum den Kampf gegen das "innere England", welches im preußischen Junkertum ausgemacht wurde (man beachte das Ausmaß an Meinungsfreiheit im Deutschen Kaiserreich selbst während des Weltkrieges!) erleichtern, das durch sein Festhalten am preußischen Klassenwahlrecht der Bildung einer wahrhaft demokratischen, das heißt nationalen Volksgemeinschaft entgegenstand. Aufgrund der starken Stellung der deutschen Sozialdemokratie würde ein Sieg Deutschlands im Weltkrieg den Sieg der marxistischen Theorie insbesondere bei den weniger marxistisch ausgerichteten sozialistischen Parteien des Auslandes bedeuten. Von weltgeschichtlicher Bedeutung war jedoch nach Lensch, daß der Sieg Deutschlands gegenüber dem britischen Liberalismus den Durchbruch des organisierten Kapitalismus darstellen würde, der als höhere Organisationsform dieses Gesellschaftstypus organisch zum Sozialismus als der den Klassenkampf überwindenden nationalen Volksgemeinschaft führen müsse.

In das Zentrum seiner Schriften rückte bei Lensch zunehmend die generell pro-britische Haltung der SPD selbstkritisch analysierende Auseinandersetzung mit England – insoweit kann man die Schriften Lenschs durchaus heute noch empfehlen. Hierbei wandte er konsequent die marxistischen Kategorien des Klassenkampfes auf die Außenpolitik an, wobei Großbritannien als der eigentlich reaktionäre Ausbeuter erschien, dessen Riesenreich durch den Weltkrieg als Weltrevolution zum Einsturz gebracht werden müsse.

Mit der Niederlage Deutschlands fand Lensch jedoch auf seine Art wieder zu der sozialdemokratischen Bewunderung für England zurück. Unter dem Druck des Weltkrieges hätte sich England nämlich innenpolitisch den deutschen Prinzipien des organisierten Kapitalismus und der demokratischen allgemeinen Wehrpflicht anschließen müssen und damit einen fortschrittlichen Charakter bekommen. Dem stand jedoch fortschrittstheoretisch ein Negativum gegenüber: Englands Sieg hatte zwar die SPD in Deutschland an die Macht gebracht, womit der Weg zum Sozialismus offen war, gleichzeitig aber zur Zerschlagung der Elemente geführt, wegen derer sich Deutschland bei marxistischer Perspektive als besonders fortschrittlich darstellte und die man für den wirklichen Sozialismus benötigen würde, wie die preußisch-deutsche Armee und die den plutokratischen Tendenzen des Parlamentarismus entgegengesetzte Beamtenregierung.

Die Versailler Waffenstillstandsbedingungen, die sich als Sieg des reaktionären Kapitalismus darstellten, machten Lensch klar, daß das Konzept der Übertragung der marxistischen Kategorien des Klassenkampfes auf die internationale Politik durchaus fruchtbar war. Trotz der zwiespältigen Errungenschaften des Weltkrieges stand für Lensch fest, daß Deutschland weiterhin eine sozial-revolutionäre Rolle von weltgeschichtlicher Bedeutung einzunehmen hätte, was durch den Sieg der Sozialdemokratie und dem Abtritt der Reaktion, "der monarchischen Maskerade", noch deutlicher geworden sei. Um diesen internationalen Klassenkampf durchstehen zu können, müßte jedoch der interne Klassenkampf unter Fortsetzung des Augusterlebnisses in der nationalen Volksgemeinschaft überwunden werden.

Damit trat bei Lensch, wie bei anderen Linksrevisionisten der Vorkriegssozialdemokratie wie dem Italiener Mussolini, endgültig die Nation an die Stelle der Arbeiterklasse als handelndes Subjekt des geschichtlichen Fortschrittes. Die Führung des internationalen Befreiungskampfes gegen Versailles und damit die Fortsetzung des Krieges der Weltrevolution in einem Zweiten Weltkrieg erforderte danach gerade die Überwindung des (inneren) Klassenkampfes unter einem Führersozialismus.

Auch wenn Paul Lensch, der während der Novemberrevolution als Verbindungsmann zwischen dem Rat der Volksbeauftragten und der Obersten Heeresleitung fungierte, in der SPD keine Mehrheit fand und 1922 wegen seiner Mitwirkung an der Niederschlagung des Spartakusaufstandes sogar aus der SPD ausgeschlossen wurde, stellt sich die bewältigungsrelevante Frage: War es wirklich nur Polemik, die den USPD-Politiker Crispien 1919 veranlaßte, gerade in bezug auf die (Mehrheits-) Sozialdemokratie die Bezeichnung "Nationalsozialisten" zu verwenden? Immerhin geht dieser Begriff auf die Selbstbezeichnung der 1897 als Abspaltung von der Sozialdemokratie des böhmisch-mährischen Raumes gegründete Tschechoslowakische Nationalsozialistische Partei (Ceskoslovenska strana narodnescocialisticka) zurück. Als Reaktion darauf hatte dies 1903 zur Gründung einer sudetendeutschen Deutschen Arbeiterpartei geführt, die sich 1918 in Deutsche National-sozialistische Arbeiterpartei umbenannte und zum unmittelbaren Vorgänger der reichsdeutschen NSDAP werden sollte.

Die Person des SPD-Reichstagsabgeordneten Lensch spricht, neben anderen, wie die des Doktorvaters des späteren SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, Johann Plenge, zumindest dafür, daß das Entstehen des Nationalsozialismus den Sozialismus zur zwingenden Voraussetzung hatte. Diese mögliche Entwicklung vom Sozialismus zum National-Sozialismus ist dabei nicht als dialektische sondern als organische zu sehen. Sie konnte in Deutschland letztlich wegen der Friedensbedingungen von Versailles, die den deutschen Sonderweg konstituierten, erfolgreich sein. Das Nachvollziehen der Entwicklung der politischen Ideen des ehemaligen einflußreichen SPD-Reichstagsabgeordneten Paul Lensch ermöglicht ein besseres Verstehen der dem deutschen Nationalsozialismus zugrunde liegenden geistesgeschichtlichen Entwicklung.


 
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