© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/98  23. Januar 1998

 
 
Industriegesellschaft: Auf der Suche nach Wegen aus der Krise
Menschheit in der Sackgasse
von Volker Kempf

Zwei Philosophen haben ein Anliegen: die Erneuerung der Kultur. Der eine heißt Vittorio Hösle, 37 Jahre alt, der andere Klaus Michael Meyer-Abich, 61 Jahre. Beide lehren in Essen Philosophie, beide haben im vorigen Jahr voluminöse Werke veröffentlicht.

Hösle brachte sein 1200-Seiten-Opus "Moral und Politik" heraus. Meyer-Abich veröffentlichte sein gut 500 Seiten umfassendes Werk "Praktische Naturphilosophie", das aus dem Forschungsprojekt "Kulturgeschichte der Natur" hervorgegangen ist. Dem schließt sich ein weiterer, gut 400 Seiten umfassender Band an, für den Meyer-Abich als Herausgeber und Mitautor verantwortlich zeichnet. Unter dem Titel "Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens" verspricht der Herausgeber, ganzheitliche Denkansätze in Wissenschaft und Wirtschaft zu übertragen. Dem entgegen bleibt Hösle einem aufgeklärten Anthropozentrismus treu.

Ob Hösles seitenstarkes Werk großen Absatz finden wird, ist fraglich. Schließlich muß es sich heute zwischen Videoclips und knapp gefaßten Schriften wie Nietzsche für Gestreßte verkaufen. Daß Hösle es ernst meint, wenn er die Kultur, insbesondere die politische, moralisch erneuern will, kann jeder Student in seinen Seminaren erfahren. So kann der Philosophieprofessor Hösle rasend werden, wenn ein Student seinem Gedanken nicht folgen will, daß Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus bereits aus dessen Werk "Sein und Zeit" resultiere oder zumindest damit vereinbar sei. Das schließt nicht aus, daß Hösle von Heidegger wichtige Impulse für sein philosophisches Schaffen erhalten hat. So beruft er sich etwa in einem Spiegel-Interview auf Heideggers "Gelassenheit", wenn es darum geht, anzuerkennen, daß wir nicht Herren der Geschichte sind und ein Maß an Grundvertrauen zu wahren haben.

Hösle muß man sich als einen kleinen, quirligen Mann vorstellen, der in hoher Stimmlage schnell spricht, als liefe ihm sonst die Fülle seiner Gedanken davon. Ganz anders sein Kollege Meyer-Abich, der eine väterliche Ruhe ausstrahlt. Eindrucksvoll vermag er seine Studenten in die Welt der Antike zu entführen, damit sie die Gegenwart aus einer anderen Perspektive zu betrachten in der Lage sind. Eine Schrift Platons ist nicht einfach eine Schrift Platons, lernen die Studenten in einer Vorlesung von Meyer-Abich. Der Sinn einer Schrift variiert je nach dem Zusammenhang, in den man sie stellt. Ähnlich mag uns ein Stein ganz unterschiedlich erscheinen, wenn wir ihn aus einem Gebirgsbach hervorblitzen sehen, als wenn wir ihn zu Hause auf dem Wohnzimmertisch liegen haben. Was Meyer-Abich vermittelt, ist ein ganzheitlicher Denkansatz, im Fachjargon Holismus genannt. Die Weisheit von Meyer-Abichs Holismus speist sich in "Praktische Naturphilosophie" besonders aus der Philosophie von Nikolaus von Kues (1401–1461). Nach Nikolaus von Kues hat "alles … seinen Eigenwert, aber es hat ihn nur in der Einheit und Ordnung des Ganzen!" Im Gegensatz hierzu messe der industriegesellschaftliche Anthropozentrismus der Erde keinen Eigenwert bei und behandle sie wie eine auszubeutende Mine. Die Folge sei die Naturkrise der Gegenwart.

Daß sich die Industriegesellschaft auf Abwegen befindet, bildet den Ausgangspunkt der Überlegungen von Meyer-Abich wie auch von Hösle. Wie Spaziergänger, die sich verlaufen haben, durchwandern sie die geistesgeschichtlichen Pfade, um zu schauen, welche Wege uns weiterbringen. Hösle hält die Spuren von Hegel, Hobbes und Kant für wegweisend. Meyer-Abich hält die Spuren von Platon, Nikolaus von Kues und Johann Wolfgang von Goethe für vielversprechend.

Die Pfade, die Hösle einschlägt, sind dem Leser nicht völlig unbekannt. Daß viele der ökologischen Probleme der spätindustriellen Gesellschaft nur durch weniger Konsum zu lösen seien, bekommt man auch anderswo zu hören. Hösles Text enthält eine Vielzahl von moralischen Urteilen, die überwiegend in Worte gefaßt sind wie "verabscheuungswürdig", "verachtenswert" oder "naiv". Ob dadurch die Forderung nach einem "Universalstaat mit Gewaltmonopol" durchgängig rational und der Vernunft gemäß zwingend wird, darf bezweifelt werden. Wenn die spätmoderne Dekadenz "erstmals den ganzen Planeten" gefährdet, wie Hösle meint, dann dürfte es ein unangemessener Luxus sein, den politisch interessierten Lesern einen Rettungsring vom Gewicht einer ganzen Universität zuzuwerfen. Gefragt ist eine praktische Philosophie, die Anleitungen enthält, wie wir uns an den eigenen Haaren aus dem Wasser ziehen können. Doch wie das gehen soll, darauf scheint auch Hösle keine Antwort zu wissen. Und so drückt das Opus von Hösle zwischen den Zeilen eine verzweifelte Ratlosigkeit aus, wie sie sich ein Heidegger gelassen zugestehen konnte. Das soll nicht heißen, daß wir den Dingen einfach ihren freien Lauf lassen sollen. Schließlich gilt es im Sinne von Hösle, die Zukunft offen zu halten, indem wir aktiv handeln. Für die ausbeuterische Unterwerfung der Erde unter den Menschen macht der Autor von "Praktische Naturphilosophie" das Geltungsbedürfnis hauptverantwortlich. Im Geltungsbedürfnis, das Meyer-Abich bei aller Wertschätzung auch in Kants Philosophie ausmacht, liege die eigentliche Wurzel des Zerfalls unserer Gesellschaft. Im Gegensatz zu Kant, der auf der Suche nach Selbstsicherheit des auf sich selbst gestellten Einzelnen gewesen sei, geht es Meyer-Abich um gemeinsame Sicherheit in der Beziehung zu anderen. Die Nähe zum Kommunitarismus, zum Gemeinsinn, ist in solchen Überlegungen unüberhörbar. Doch schließt Meyer-Abichs Gemeinsinn nicht nur die Mitmenschen ein, sondern die ganze natürliche Mitwelt.

Der Untertitel zu "Praktische Naturphilosophie" lautet "Erinnerungen an einen vergessenen Traum". Dies meint in Anlehnung an den sogenannten Sündenfall, daß wir nicht aus dem Paradies vertrieben worden seien, sondern auszogen, um unsere eigenverantwortliche Rolle in der Welt zu finden. Dabei ist Meyer-Abichs Buch eine Herausforderung für jeden Leser, in Natur und Gesellschaft erwachsen zu werden. Für die Politik entspricht es einem vorgehaltenen Spiegel, der erkennen läßt, wie weit der Weg zur Überwindung der politischen Adoleszenzphase ist. Für den politisch interessierten Leser führen Meyer-Abichs Pfade zum mündigen Bürger, der sich seiner Naturzugehörigkeit erinnert und einen postmateriellen Lebensstil vorlebt. Auch Wissenschaft und Wirtschaft tragen ihren Anteil an der Naturkrise der Gegenwart. Sie sind auf den über 400 Seiten des Buches "Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens" zu einem Paradigmenwechsel aufgefordert, wie ihn die ganzheitliche Medizin bereits vollzogen habe.

Vittorio Hösle entschwebt mit Moral und Politik in den geistigen Philosophenhimmel. Dabei erneuert er die eingetretenen geistigen Grundlagen der Industriegesellschaft.

Klaus Michael Meyer-Abich schöpft aus der politischen Praxisnähe, die er als Wissenschaftssenator in Hamburg gewonnen hat. Seiner praktischen Philosophie ist das nur dienlich. Vor allem aber beschreitet Meyer-Abich mit seinen holistischen Ansätzen Pfade, an denen die Entwicklung der Industriegesellschaft bisher vorbeigegangen ist. Damit könnte Meyer-Abich zu einem der bedeutendsten Wegweiser für eine geistige Erneuerung der Industriegesellschaft avancieren.

Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, Verlag C.H.Beck, München 1997, 1.216 Seiten, geb., 98 Mark

Klaus Michael Meyer-Abich: Praktische Naturphilosophie. Erinnerungen an einen vergessenen Traum, Verlag C.H. Beck, München 1997, 520 Seiten, geb., 78 Mark

Klaus Michael Meyer-Abich (Hrsg.): Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens. Ganzheitliches Denken der Natur in Wissenschaft und Wirtschaft, Verlag C.H. Beck, München 1997, 470 Seiten, geb., 84 Mark


 
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