© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/98  16. Januar 1998

 
 
Algerien: Kinkels "Dialog"- Initiative verkennt den kompromißlosen Fanatismus von GIA und FIS
Opfer islamistischer Propaganda
von Orhan Candar

Woche für Woche bekennt sich die al-Djama’a al-Musallaha (Bewaffnete Gruppe) von ihrem ruhigen Londoner Sitz aus zur "Bestrafung der Regierungsknechte und der regierungstreuen Elemente mit Gottes Hand". Weit über 1.000 Todesopfer hat es in diesem Jahr in Algerien schon gegeben, die Zeitungen liefern regelmäßig weitere erschreckende Opferzahlen und "Analysen", und die westlichen Politiker entfalten einen in bezug auf dieses nordafrikanische Land neuartigen Aktivismus.

"Ein sinnloses Töten" nannte Außenminister Klaus Kinkel die jüngsten Gemetzel in Algerien und forderte am 3. Januar "eine politische Lösung". Das klingt gut, doch was soll man darunter verstehen? Im November 1997 wurde der algerischen Journalistin Salima Gazali unter dem Beifall der deutschen Medienzunft der "Sacharow-Preis" verliehen: für ihre "kritische Haltung" – selbstverständlich zum algerischen Staat – und ihren Einsatz "für einen gerechten Dialog". Ein Dialog der algerischen Regierung zumindest mit den Vertretern der FIS wird auch von westlichen Politikern immer wieder gefordert. Ins Kinkelsche Deutsch übertragen ist dies die vielbeschworene "politische Lösung".

Wer die westlichen Medien verfolgt, bekommt einen Überfluß an Informationen über das Töten in Algerien, jedoch herzlich wenig darüber, wer wen tötet. Formulierungen wie "mutmaßliche Fundamentalisten" oder "algerischen Regierungskreisen zufolge…" sind ebenso unverzichtbare Bestandteile der "kritischen" Berichterstattung wie die Hinweise auf den eigentlich durch und durch friedvollen Charakter des Islam.

Das Herz der zivilisierten Welt scheint so groß zu sein, daß darin sogar für die bärtigen Kinder- und Frauenmörder noch Platz ist, zumal deren "sinnloses Töten" schließlich von den algerischen Militärs mit ihrer Aufhebung des demokratischen Prozesses erst heraufbeschworen worden sei. Denn "die Islamisten haben doch erst angefangen, die Kinder zu schänden und den Mädchen die Kehle durchzuschneiden, nachdem die Machthaber sie aus dem demokratischen Spiel ausgeschlossen hatten." – Wenn dem so ist, dann haben wir es allerdings mit einem brandgefährlichen Demokratie-Partner zu tun, der jederzeit mit aller Brutalität zuschlagen kann, sobald man ihn provoziert oder ihm dieses Gefühl gibt.

Linksorientierte Algerien-Experten vom Kaliber einer Sabine Kebir gehen bei ihrer gesellschaftskritischen Analyse inzwischen sogar soweit, daß sie von einem "Bürgerkrieg" sprechen, so daß man den völlig falschen Eindruck haben muß, die GIA werde von einer Massenbasis getragen.

Bei allen Vorwürfen, die man der amtierenden algerischen Regierung und dem Militär machen kann, da sie sehr wohl einigen "Dreck am Stecken" hat, geht die derzeitige westliche Bericht-erstattung eindeutig der islamistischen Propaganda auf den Leim, wie man sie in der Türkei, in dem Golfscheichtum Katar oder in vielen anderen arabischen Ländern zu hören bekommt. Der katarische Fernsehkanal al-Jazira verurteilt unentwegt "Agenten des westlichen Kolonialismus im Staatsdienste", die vor allem die Massaker an der Zivilbevölkerung begingen. Ebenso äußerte sich der türkische Islamist Necati Özfatura am 3. Januar in der Tageszeitung Türkiye: "Europäer und ihre Knechte im algerischen Generalstab sind es, die tagtäglich Kinder, Frauen und Greise umbringen, um den Ruf des Islam und des islamischen Widerstandes zu beschmutzen." Ganz ähnlich klingt es in der in Berlin erscheinenden Jungen Welt. Dort konnte man am 10. Januar lesen, daß es die algerischen Geheimdienstfunktionäre seien, "die als mutmaßliche Drahtzieher die Angst vor dem islamischen Fundamentalismus und so Algerien die Solidarität Europas sichern" würden.

Die besagten Fundamentalisten und die ultralinken deutschen Menschenfreunde ignorieren gleichermaßen die Tatsache, daß sich die "nicht identifizierbaren Bluttaten" zwar in Algerien vor Ort ereignen, jedoch deren "gemäßigte" und "extreme" Befürworter mitten in Europa sitzen. Etwa Antar az-Zawa’biri in London, Abdalkarim Gamati in Brüssel und Rabah Kabir als "anerkannter politischer Flüchtling" in Frankfurt am Main. Daß Antar az-Zawa’biri den "extremen Flügel" der GIA, Rabah Kabir und sein Brüsseler Verbindungsmann Gamati dagegen die "gemäßigte" FIS vertreten sowie all diese untereinander Todfeinde sind, ist ein zumindest in Deutschland nicht ernst zu nehmendes Argument. Selbst der Spiegel durfte unlängst (Ausgabe 1/98) deutsche Geheimdienstler mit den Worten zitieren, daß es "aller Feindschaft zum Trotz mitunter zu Formen der Zusammenarbeit" komme. So kooperierten FIS- und GIA-Leute gelegentlich bei der Beschaffung falscher Pässe für die Untergrundarbeit.

Im selben Spiegel-Artikel verheißt Kabir, nicht Sabine, sondern Rabah, wenn sie an die Macht komme, brauche die FIS zukünftig Intellektuelle, die deutsch sprechen. – Ist es das, was die Bundesregierung dazu veranlaßt, zwar bedeutungsschwer eine "politische Lösung" des algerischen Terrors zu fordern, jedoch den naheliegendsten Schritt einer Ausschaltung der hiesigen organisatorischen Basen der Fundamentalisten nicht zu tun? Und warum legen die Regierungen in London oder Paris die gleiche Untätigkeit gegenüber den kriminellen algerischen Strukturen vor der eigenen Haustür an den Tag?

Liegt dieser Politik möglicherweise das gleiche Motiv zugrunde wie der US-amerikanischen Unterstützung für die Taliban in Afghanistan: nämlich der Beruhigung des Landes um jeden Preis? Oder will man sich mit den mutmaßlichen künftigen Machthabern gut stellen, so wie es beispielsweise der Berliner Philologe Prof. Peter Heine empfohlen hat: "Angesichts der Möglichkeit, daß radikal-islamische Gruppen oder Parteien in verschiedenen Ländern an die Macht kommen, muß schon heute von westlicher Seite der Versuch unternommen werden, mit Vertretern dieser Organisationen in einen Dialog einzutreten." (P. Heine: "Konflikt der Kulturen oder Feindbild Islam", 1996).

Mittlerweile ist es den algerischen Militärs wenigstens gelungen, die Hauptstadt Algier und große Garnissonsstädte wie Blida vom islamistischen Bandenunwesen weitgehend zu säubern. Die CIA-Kunde vom "todsicheren Fall der algerischen Regierung", welche die USA Ende 1993 zu Geheimtreffen mit der FIS in Washington bewog (Edward G. Shirley: "Is Iran’s Present Algeria’s Future?", Foreign Affairs, Mai/Juni 1995), erwies sich bisher als falsch.

Die Wirtschaft des Landes funktioniert trotz aller Gewalt-Exzesse nahezu reibungslos. Der hohe Ölpreis sorgte in den letzten Jahren sogar für einen unverhofften Geldsegen, und die Investitionen ausländischer Unternehmen sind trotz der Gewaltexzesse keineswegs rückläufig.

Der ehemalige französische Botschafter in Algerien, Stéphane Hessel, skizzierte in einem Interview mit der Badischen Zeitung die Lage wie folgt: "Algerien ist nicht Somalia. Es ist ein großes Land, in dem vieles ganz normal funktioniert. Es gibt ein geregeltes Schulwesen, zum Beispiel, und eine zwar kontrollierte, aber sehr aktive Presse. (…) Und in all dieser ‘Normalität’ wird plötzlich ein ganzes Dorf massakriert."

Gerade das oben genannte Zitat des deutschen Philologen Heine machte jüngst in der Türkei die Runde. Die linksnationale Wochenzeitschrift Aydinlik (Istanbul) hat es aufgegriffen, um die Bonner Toleranz gegenüber der fundamentalistischen Kaplan-Gemeinde in Köln zu erklären. Daß die algerische Tageszeitung al-Mudjtahid seit geraumer Zeit nur von einer feindseligen Haltung der EU spricht, den Namen Deutschlands aber nicht in den Mund nimmt, hat in erster Linie damit zu tun, daß Deutschland auch heute der wichtigste Handelspartner Algeriens ist.

Diese Abhängigkeit und das grundsätzlich positive Deutschenbild erklären es auch, daß die Regierung in Algier das von Bonn angeregte EU-Angebot über den Besuch einer ranghohen Delegation zwecks Beratung bei der Terrorismus-Bekämpfung und Hilfen für die Opfer angenommen hat. Mit Empörung wurden dagegen die Initiative des italienischen Außenministers Lamberto Dini aufgenommen, der nach einem Telefonat mit seinem Amtskollegen Charras in Teheran verlauten ließ, man solle den Iran bei der Suche nach einer "Lösung der Probleme" einbeziehen. Algerien hatte seine diplomatischen Beziehungen zum Iran 1992 abgebrochen.

Angesichts des offenbar unbegrenzten Glaubens der Bonner Regierung an die Macht des "Dialogs" und der "Runden Tische" bei der Lösung von Konflikten müssen einem Zweifel an der Qualität ihrer Algerien-"Experten" kommen. Dabei unterstreicht eigentlich jede weitere Bluttat die Notwendigkeit, die Verantwortlichen endgültig, d. h. mit militärischen Mitteln, auszuschalten. Daß dies für die 120.000 Mann starke algerische Armee nicht einfach ist, kann angesichts der Tatsache, daß Algerien das flächenmäßig größte arabische Land ist und die GIA ebenso wie die FIS über hervorragende internationale Kontakte verfügen, kaum verwundern.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen