© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/98  16. Januar 1998

 
 
Stichwort "Deutsch"
von Yvo J.D.Peeters

Der Begriff "Volk" und "Nation" ist anderer Natur als der des Staatsbürgers eines Staates. Staatsbürger haben die Staatsbürgerschaft des politischen Systems, zu dem sie freiwillig oder gezwungenermaßen gehören. Die Nationalität jedoch gründet auf der eigentlichen Rechtsbeziehung des Individuums zu dem Volk, dem es angehört. Die Nationalität ist ein unveräußerliches Gut, das auch außerhalb anderer oder innerhalb anderer Rechtsordnungen bestehen bleibt. Die Begriffsbestimmung "Nationalität" geht also dem Konzept "Staat" in historischer Sicht voraus. Es gibt zwischen Staatsbürgerschaft und Nationalität keine einzige Gegensätzlichkeit, keinen Widerspruch und keine Exklusivität. Im Gegenteil: sie ergänzen sich und können ineinanderfließen. Dieses Streben nach Kongruenz wird heutzutage überall in Europa als Regionalismus, Autonomie, Volksnationalismus u.v.m. abgestempelt. Einige Staatswesen erkennen diese Dualität an und unterscheiden deutlich zwischen den beiden Begriffen. Auffallend ist, daß es hier vorwiegend um Staaten mit einem föderalen Aufbau geht. Ferner kann festgestellt werden, daß die Rechtssysteme der früheren sozialistischen Regime ebenfalls in konsequenter Weise die Differenzierung vornehmen.

In den mitteleuropäischen Staaten, vor allem in den "Nachfolgestaaten" des Habsburgischen Reiches, fällt auf, daß der Unterschied zwischen Staatsbürgerschaft und Nation ziemlich ausgeprägt erscheint. Zu dieser Feststellung kam bereits W. Winkler 1925 in seinem siebenteiligen Handwörterbuch der Staatswissenschaften unter dem Stichwort "Nationalitäten-Statistik": "Auf einer sprachlichen Zweideutigkeit beruht es, wenn Staatszugehörigkeit und Volkstum verwechselt werden. Im Verkehr mit den Westvölkern gründen sich vielfache Mißverständnisse darauf, daß sie unter nationalité die Staatszugehörigkeit verstehen und nicht das, was wir mit dem Begriff Nationalität verbinden. Um dieses auszudrücken, müssen wir von nationalité ethnique sprechen. Heute werden für die oben angeführten Begriffe die Konzepte ‘Staatsbürgerschaft-Nationalität’ verwendet."

Allerdings bleibt die Begriffsverwirrung noch bestehen: so trat in den vergangenen Jahren im belgischen Diskussionskontext über Brüssel der Begriff "Subnationalität" in den Vordergrund. Im Parlament wurde ein Gesetzesentwurf eingereicht, der, abgesehen von der verwendeten Terminologie, unsere Zustimmung finden könnte. Wie kann man erwarten, daß sich ein Bürger mit einer "Subnationalität" zufrieden geben kann? In dem Maße, wie sich die flämisch/niederländische und wallonisch/französische Identität (d.h. Nationalität) immer stärker innerhalb des belgischen Staatssystems profiliert, wird deutlicher, daß sich auch die dritte Gemeinschaft des Landes eindeutig als Volksgruppe positionieren muß.

Ist die Identitätsfindung im allgemeinen schon für viele Volksgruppen ein schwieriger Prozeß, so ist die Bindung der deutschen Volksgruppe zu ihrem Stammland noch weit schwieriger. Als Volksbegriff und als Staatskonzept hat das Deutsche eine sehr bewegte Geschichte erlebt, die noch bis zum heutigen Tag ihre Auswirkungen zeigt.

Der Deutsch-Begriff hat nach Helmut Berschin (Deutschland – Ein Name im Wandel, München 1979) fünf diachronische Bedeutungsschichten durchlaufen. Deutsch bezeichnete im frühen Mittelalter lediglich die (Volks) Sprache im Gegensatz zu dem allenthalben verwendeten Latein. Ab 1100 deckte der Begriff gleichermaßen Land und Volk ab. Dieses Begriffsverständnis währte bis tief ins 18. Jahrhundert, als es in der Goethezeit ebenfalls einen kulturellen Inhalt erhielt. Erst vor einem guten Jahrhundert wurde "Deutsch" zum Staatsbegriff, und zwar seit dem zweiten Kaiserreich von 1871. Bis zu dem Zeitpunkt verstand sich jeder als Deutscher, der Deutsch sprach, also auch Bürger der Schweiz, Luxemburgs usw. Darüber hinaus wohnten Deutsche in praktisch allen Staaten Mitteleuropas. In der großen Larousse-Enzyklopädie des Jahres 1866 kann man unter dem Stichwort "Deutschland" noch die bündige Feststellung lesen: "In politischer Hinsicht besteht Deutschland nicht." Ab 1871 vollzieht sich langsam die Einengung des Deutsch-Begriffs. Die Deutschen wurden zu einem staatstragenden Volk. Dennoch wohnten im Deutschen Reich auch Bürger französischer, dänischer und polnischer Sprache. Demgegenüber gehörten viele Deutsche nicht zum Reich. Dies führte um die Jahrhundertwende zur Herausbildung des Konzepts "Deutschsprachig", das derzeit unter politischem Druck einen gewaltigen Auftrieb in Belgien erhalten hat.

Die Spaltung zwischen Person und Sprache wird dadurch vollzogen: der "Staat" hat sich dazwischen gestellt. Wir können diese Entwicklung in mehreren Sprachgebieten beobachten, doch erfährt sie ihre schärfste Ausprägung in der Wortbeziehung "Deutsch und Deutscher". Heute hat dieser Prozeß zu einer totalen Aushöhlung des Deutsch-Begriffs geführt. So finden wir dann auch im "Großen Duden" (Band 2, 1976) folgende Darstellung: "Angehöriger des deutschen Volkes" – wogegen auch nichts einzuwenden ist, wenn nicht nach dem Bindestrich hinzugefügt stände: "aus Deutschland stammend". Es ist dies eine völlige Begriffsverwirrung. Meyers Handlexikon (Mannheim 1974) treibt es noch bunter: Unter dem Stichwort "Nationalität" finden wir erst "Volks- und Staatszugehörigkeit" (!), und in zweiter Bedeutung: "Nationale Minderheit"; hingegen kommt der Begriff "Deutsch(er)" überhaupt nicht darin vor.

Für die außerhalb der deutschen Sprachgrenzen lebenden Deutschen ist dies eine destruktive Entwicklung. Sie werden in ihrem Innersten getroffen und stellen sich nach und nach die Frage, ob ihr Deutsch-Sein mehr oder weniger beinhaltet als das Sprechen der deutschen Sprache. Der Erste Weltkrieg hat außerdem in hohem Maße das deutsche Staatsgefühl verstärkt, wodurch die Kluft zwischen den Staatsdeutschen und den Nicht-Staatsdeutschen sich nur noch vergrößert hat. Deutschlands Niederlage, in deren Folge Gebietsabtretungen in allen Grenzteilen stattfanden, hatte zur Folge, daß sich die Zahl der Nicht-Staatsdeutschen in dramatischer Weise vergrößerte. Sie leben heute in Dänemark, Belgien, Frankreich und durch den Zerfall der Habsburger Monarchie auch in Italien, der Tschechoslowakei, Ungarn usw. Selbst der Volkswille der (Rest-) Österreicher, auch Deutsche zu sein, wurde einfach negiert. Noch in der österreichischen Verfassung von 1919 hieß es: "Deutsch-Österreich ist Bestandteil des Deutschen Reiches."

Der in der Wissenschaft verwendete Sprachgebrauch paßt sich der Entwicklung rasch an. Schlagen wir die Enzyklopädie der Weimarer Zeit auf: In Meyers Lexikon aus dem Jahre 1924 steht unter dem Stichwort "Deutschland", dasselbe umfasse "im breiten Sinne das deutsche Sprachgebiet in Mitteleuropa, einschließlich die Sudeten, Schweizer und Österreicher, in engerem Sinne nur das Deutsche Reich". Diese Sicht muß zumindest als höchst eigenartig bezeichnet werden. Der Große Brockhaus des Jahres 1929 dagegen meint: "Deutschland: das Land der Deutschen, umfassend das deutsche Sprachgebiet in Mitteleuropa. Deutschland ist also ein Volksbegriff, der eine Sprach- und Kulturgemeinschaft bestimmt." In beiden Fällen wird der Begriff "Deutschland" also nicht als Staatskonzept, wohl als sprachlich-kulturelles oder ethnisches Konzept umschrieben.

Also ist Deutschland nicht das Deutsche Reich? Deutschland ist viel größer. Auch in den Dreißiger Jahren liegen gemäß den gängigen Begriffen von damals Eupen und St. Vith noch stets in Deutschland.

Adolf Hitler benutzte später diese Terminologie in bewußter Absicht, um seine Gebietsansprüche zu untermauern. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erlebte der Deutsch-Begriff zweifelsohne seine schwerste Krise. Die schrecklichen Ereignisse im Zweiten Weltkrieg belasteten die "Deutschen" mit einem kollektiven Schuldgefühl, dem die "Grenzlanddeutschen" und "Volksdeutschen" versuchten zu entfliehen, indem sie ihre Identität verleugneten. Sowohl in Ost- als auch in Westeuropa ist in perverser Weise von staatlicher Seite versucht worden, diesen Schuldkomplex zu schüren um so alle sprachlich-kulturellen Ansprüche zu ersticken.

Am Ende dieses Jahrhunderts und vor allem nach der Wiedervereinigung des so lange geteilten Deutschland, zu einem Zeitpunkt, in dem in der Schweiz, in Wallonien, in Québec der Ruf lauter zu hören ist, eine französische Identität zu schaffen, und zu einem Zeitpunkt, in dem in vielen Staaten Mittel- und Osteuropas bis zum Ural Menschen ihre Stimme erheben, um sich als Deutsche zu bekennen, muß folglich die Frage in aller Schärfe gestellt werden: Gibt es in Westeuropa noch Deutsche außerhalb Deutschlands?


 
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