© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/24 / 29. März 2024

Der „Dampfwalze“ weichen
Der sowjetische Vormarsch bis zum Frühjahr 1944 aufgrund des verschobenen Kräfteverhältnisses
Dag Krienen

Nach dem Scheitern des deutschen Angriffs bei Kursk Mitte Juli 1943 (Unternehmen Zitadelle, JF 28/33) ging die Rote Armee an der gesamten Ostfront zur Offensive über. Sie drängte bis zum Frühjahr 1944 nicht nur die Heeresgruppen Nord und Mitte zurück, sondern eroberte auch die gesamte Ukraine. Dennoch stellt die Zeit vom August 1943 bis zum April 1944 im Osten ein fast „vergessenes“ Kriegsjahr (so der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser) dar. Das liegt daran, daß es in diesem Zeitraum zu keinen großen, spektakulären Schlachten und Niederlagen kam. Dennoch entwickelte sich die Lage an der Ostfront für die Deutschen katastrophal.

Die materielle und personelle Übermacht der Roten Armee nahm immer größere Dimensionen an. Die westalliierten Lend-Lease-Lieferungen erlaubten es der sowjetischen Industrie, sich auf die Endfertigung schwerer Rüstungsgüter wie Panzer und Geschütze zu konzentrieren, während Lkws, Jeeps, Reifen und vieles mehr aus den USA kamen. Was die personellen Reserven anging, hatten deutsche Dienststellen schon im Frühjahr 1943 erkannt, daß die Sowjetunion über mindestens 3,4 Millionen noch nicht eingezogene militärdiensttaugliche Männer verfügte, das Deutsche Reich hingegen nur noch über 0,5 Millionen. Aufgrund der rücksichtslosen Rekrutierungspraxis der Roten Armee war ihre Menschenreserve noch größer, zumal sie in den „befreiten“ Gebieten sofort alle wehrfähigen Männer von 16 bis 60 rekrutierte.

Damit konnte die Wehrmacht weder personell noch – trotz der gestiegenen deutschen Rüstungsfertigung – materiell mithalten. Zudem besaß die Ostfront erstmals nicht mehr die Priorität. In der „Führeranweisung Nr. 51“ vom 3. November 1943 stellte Hitler explizit fest, daß die größte Gefahr für das Reich eine alliierte Landung in Westeu-ropa bildete. Im Osten lasse hingegen die Größe des Raumes „im äußersten Fall“ Bodenverluste im größeren Ausmaß zu. 

Das hatte einen verminderten Zustrom von Nachschub und Soldaten an die Ostfront zur Folge. Am 1. Oktober 1943 befanden sich von den etwa vier Millionen Mann des Feldheeres 1,4 Millionen auf westlichen und südlichen Kriegsschauplätzen, meist nur Gewehr bei Fuß. Nur knapp 2,6 Millionen Soldaten standen an der Ostfront. Im Juli 1943, zu Beginn des Unternehmens Zitadelle, waren es gut 3,1 Millionen gewesen, im Mai 1944 sollten es nur noch 2,2 Millionen sein. Das Ostheer verzeichnete vom Juli 1943 bis zum Mai 1944 etwa 1,9 Millionen Abgänge, denen nur gut 1,2 Millionen Zugänge gegenüberstanden. In den Monaten von August 1943 bis Mai 1944 beliefen sich allein die „blutigen Verluste“ (Gefallene, Vermißte, Verwundete) auf im Schnitt 150.000 Mann pro Monat. Insgesamt war das ein Mehrfaches der bei Stalingrad erlittenen Verluste. Die Rote Armee konnte hingegen trotz der enormen Zahl von Menschen, die sie bei ihren Angriffen opferte, eine Stärke von 5,7 bis 6,4 Millionen Soldaten halten.

Ihre materielle und personelle Überlegenheit erlaubte den Sowjets vom Sommer 1943 bis zum Frühjahr 1944, fast ohne Unterbrechungen an nahezu allen Stellen der Ostfront immer wieder große Angriffe zu starten. Sie waren in der Regel mit enormen Verlusten an Panzern, Waffen und vor allem rücksichtslos verheizten Soldaten verbunden, oft in fünf- bis achtfacher Höhe der deutschen. Die wenig flexible Taktik und Operationskunst der Roten Armee erlaubte es den deutschen Panzerdivisionen zwar wiederholt, sowjetische Angriffsspitzen zurückzuwerfen, manchmal sogar einzukesseln und zu vernichten. Doch mußten sie als „Feuerwehr“ von einem Brandherd zum anderen eilen und konnten nicht überall sein. Viele deutsche Divisionen brannten in einer oft pausenlosen Folge von Großkampftagen aus, 41 wurden aufgelöst und ihre Reste zur Auffrischung anderer verwendet (in Stalingrad und Tunis waren insgesamt 32 Divisionen verlorengegangen). Die Rote Armee ersetzte hingegen ihre ausgebrannten Armeen immer wieder durch neu aufgestellte Verbände: Diese bestanden zwar aus kaum ausgebildeten Soldaten, die massenhaft als Kanonenfutter geopfert wurden. Sie bildeten aber dennoch eine gewaltige „Dampfwalze“, die das überforderte deutsche Ostheer nur punktuell aufhalten konnte, aber von der es immer weiter zurückgedrängt wurde, ohne eine große einzelne Niederlage wie bei Stalingrad zu erleiden. 

Hitlers Abberufung von Manstein beendete die „Zeit des Operierens“

Gegen einen Gegner, dem der Verlust von Millionen Soldaten und zehntausend Panzern nichts ausmachte, nutzte der Wehrmacht auch ihre noch vorhandene überlegene taktische und operative Führung nicht mehr viel. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Generalfeldmarschall Erich von Manstein, und andere Generäle hofften aber, die sowjetischen Offensiven durch eine beweglich geführte Verteidigung unter Preisgabe von Raum zumindest soweit auszukontern, daß die eigene Defensivkraft erhalten blieb. Hitler hielt indes trotz seiner Weisung 51 wenig von der Preisgabe von Raum im Osten und behielt sich die Genehmigung für Rückzüge vor. Noch gestattete er sie am Ende unter dem Druck der Ereignisse, vielfach aber zu spät, und nahm seinen Truppen die Möglichkeit, sich rechtzeitig auf kürzere Defensivlinien und ausgebaute rückwärtige Stellungen zurückzuziehen. 

Das galt insbesondere für den Rückzug auf die „Panther“-Linie, eine kurze Verteidigungsstellung am Westufer der Narwa, des Dnjepr und des Mius. Den Heeresgruppen Mitte und Nord gelang der Rückzug noch rechtzeitig genug. Im Süden führte hingegen das Beharren Hitlers auf das Halten weit vorgeschobener Positionen dazu, daß sich die deutschen Truppen nicht rechtzeitig auf die „Panther“-Stellung zurückziehen konnten und sowjetische Vorhuten Ende September 1943 eine ganze Reihe von Brückenköpfen auf dem Westufer des Dnjepr bildeten. 

Nach einer kurzen Atempause begann ab November, begünstigt durch einen relativ milden Winter, eine neue Serie von sowjetischen Offensiven in der Ukraine. Sie drängten die Wehrmacht von der Dnjepr-Linie ab und bereiteten ihr Anfang 1944 beinahe ein neues Stalingrad bei Tscherkassy, weil Hitler die Räumung der letzten deutschen Stellung am Flußufer zu lange verweigerte. Den eingekesselten beiden Armeekorps gelang Mitte Februar 1944 zwar der Ausbruch, aber nur unter hohen Verlusten.

Das hielt Hitler nicht davon ab, am 8. März den Führerbefehl Nr. 11 zu erlassen, in dem die Errichtung von „Festen Plätzen“ als Wellenbrecher der sowjetischen Offensiven befohlen wurde, in denen sich die Verteidiger notfalls einschließen lassen sollten. Bereits der erst Anwendungsfall, Tarnopol, geriet zum Debakel. Alle Versuche, die seit dem 23. März in der Stadt eingeschlossenen 4.600 Mann zu entsetzen, scheiterten, ebenso der Ausbruchsversuch Mitte April (siehe auch JF-Online „Der ‘Führerbefehl’ führte zur ‘Kesselpsychose’“ vom 8. März).

Zu dieser Zeit drohte eine weit größere Katastrophe von Stalingradschem Ausmaß. Ende März 1944 gelang es der sowjetischen 1.und 2. Ukrainischen Front, die von Generaloberst Hans-Valentin Hube befehligte 1. Panzerarmee, insgesamt 220.000 Mann, nördlich des Flusses Dnjestr einzuschließen. Von Manstein erhielt nach einem Rücktrittsultimatum von Hitler die Genehmigung zum Ausbruch. Der Feldmarschall befahl den Angriff in eine die Sowjets überraschende Richtung. Tatsächlich gelang es der 1. Panzerarmee, bis zum 6. April in einem „wandernden Kessel“ – mit geringen personellen Verlusten und unter Mitnahme aller Verwundeter – wieder Anschluß an die deutschen Linien zu finden.

Doch noch bevor das Ausbruchsunternehmen erfolgreich abgeschlossen war, wurde von Manstein mit Wirkung zum 2. April von Hitler als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd abgelöst. Bei dieser Gelegenheit soll der „Führer“ erklärt haben, daß im Osten die Zeit des Operierens, für die der Feldmarschall besonders geeignet gewesen wäre, abgelaufen sei. Es komme „jetzt hier nur noch auf starres Festhalten an“. Damit war der Weg zu den nächsten Katastrophen vorgezeichnet.

Foto: Generalfeldmarschall Erich von Manstein spricht mit Wehrmachtssoldaten, die aus dem Kessel von Tscherkassy entkamen, März 1944: Viele Divisionen brannten völlig aus