© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Halbgares vom Zauberlehrling
Yascha Mounk ist ein Apologet des multikulturellen „großen Experiments“: Jetzt beklagt er das gefährliche Erwachen eines identitären Bewußtseins „Eingesessener“
Thorsten Hinz

Der in Harvard lehrende Politikwissenschaftler Yascha Mounk hat in Deutschland eine bestimmte Art von Bekanntheit erlangt mit Sätzen wie diesen: „In Westeuropa läuft ein Experiment, das in der Geschichte der Migration einzigartig ist: Länder, die sich als monoethnische, monokulturelle und monoreligiöse Nationen definiert haben, müssen ihre Identität wandeln. Wir wissen nicht, ob es funktioniert, wir wissen nur, daß es funktionieren muß.“ So stand es 2015 im Spiegel kurz nach Merkels Grenzöffnung. 2018 legte er in den „Tagesthemen“ nach mit der Aussage, daß „wir“ hier ein „historisch einzigartiges Experiment wagen“. 2022 veröffentlichte er eine Gebrauchsanweisung in Buchform, „Das große Experiment“, das den Verdacht eines hasardierenden Zauberlehrlings und spintisierenden Sozialingenieurs eher bestärkt als zerstreut hat.

Inzwischen schwant dem Herkunftslinken und jetzigen Liberalen: Das Experiment funktioniert nicht. Die Identität der alten Nationen ändert sich in der Tat rasant, doch anders als geplant. Einwanderer, statt entschlossen ihre Aufstiegsgschancen zu ergreifen, den Ehrgeiz der träge gewordenen Einheimischen zu wecken und Synergien auf allen Ebenen auszulösen, ziehen sich auf ihre Herkunftsidentitäten zurück und machen lautstark ihre vorgebliche Diskriminierung geltend. Parallel dazu definieren Gruppen von Eingesessenen ihr Selbst immer kleinteiliger und treten in eine identitäre Opferkonkurrenz. Mounk sieht darin den „Aufstieg einer gefährlichen Idee“, die die Gesellschaft fragmentiert und aufzulösen droht. In seinem neuen Buch beschreibt er ihre Entstehung und Wirkungsweise und macht sich Gedanken, wie man sie bekämpft.

Mounk überzeugt in den Kapiteln, in denen er ihre Quellen offenlegt: Erstens die Postmoderne-Theorie der französischen Linken, die, enttäuscht von den Enthüllungen der Verbrechen Stalins, ideologische Großerzählungen, die den Weg zum Menschheitswohl weisen wollten, grundsätzlich verwarf. Michel Foucault erklärte gesellschaftliche Verbindlichkeiten, Normen und Begrifflichkeiten zu Machtdiskursen, die zu hinterfragen und zu dekonstruieren waren. 

Die zweite Quelle bildet der Postkolonialismus. Der Literaturwissenschaftler Edward Said verlieh der Postmoderne-Theorie eine politische Stoßrichtung, indem er den westlich dominierten Diskurs über die „Dritte Welt“, insbesondere über den „Orient“, als eine Form der ideologischen Kolonisierung und politischen Machtausübung kritisierte. Hinzu kam die Critical Race Theory, die seit Mitte der 1990er Jahre die Bürgerrechtsbewegung verdrängte. Träumte Martin Luther King noch von einer Welt, in der die Hautfarbe seiner Kinder und Enkel keine Rolle mehr spielte, zogen die neuen Theoretiker aus der Tatsache, daß die rechtliche noch längst keine tatsächliche Gleichstellung bedeute, den Schluß, daß es keine neutrale, universelle Perspektive über die Rassen geben könne. Sie propagierten diverse Gruppenidentitäten, die einer strukturellen Diskriminierung durch einen hegemonialen – „weißen“ – Diskurs ausgesetzt seien.

Der Widerspruch ist offensichtlich: Einerseits wehren Minderheiten sich gegen die Zuschreibungen – die „Marker“ – von Gruppen- oder Rollenmustern im Namen des moralischen Universalismus. Andererseits machen sie sich die fremdbestimmten „Konstrukte“ zu eigen, betonen die eigene Besonderheit und nutzen sie als Ausgangspunkt für einen fordernden „essentialistischen“ bzw. „identitären“ Diskurs. Die an der Columbia-Universität in New York tätig gewesene indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak nannte das eine „strategische Wahl“. Auf das unvereinbare Nebeneinander von essentialistischer und universalistischer Argumentation angesprochen, erwiderte sie, eine geistige „Kohärenz“ und „Reinheit“ sei strategisch unmöglich, wenn man sich erfolgreich gegen „westliche Narrative der Ausbeutung“ wehren wolle.

Weiterhin führt Mounk die intellektuelle Verluderung auf die sozialen Medien zurück, die ein binäres, kurzatmiges und narzißtisches Argumentieren und Denken fördern. Mit umfangreichem Zahlenmaterial belegt er, daß die identitär Erleuchteten einen erfolgreichen „Marsch durch die Institutionen“ absolviert haben. Sie beherrschen die Universitäten, die NGOs, die Medien. In der New York Times stieg der Anteil von Beiträgen, in denen der Begriff „rassistisch“ vorkam, zwischen 2011 und 2019 um 700 Prozent, in der Washington Post sogar um 1.000 Prozent. In Deutschland ist der Trend ähnlich. 

Leider bleibt der Autor mit solchen luziden Einsichten auf halber Strecke stehen. Er sieht einen überschießenden Moralismus am Werk, wo längst knallharte neue Machtdiskurse etabliert werden und es um Macht, Einfluß, Privilegien geht. Eine neuartige, multipel strukturierte Großideologie zeichnet sich ab. Und wenn ein Weltkonzern wie Coca Cola sich als Vorreiter und Propagandaschleuder der Identitätspolitik betätigt, dann haben linke Ideen, liberale Unbedarftheit und kapitalistische Profitinteressen sich zu einem woken Neoliberalismus vereint. 

Mounk aber hält die „Rechtsextremen“ für besonders gefährlich , weil sie „den Zirkel ihrer Sympathie“ auf die eigene ethnische und kulturelle Identität verengten. Das ist erstens demagogisch, und zweitens ignoriert er, daß es sich um eine defensive Bewegung handelt. Um es zuzuspitzen: Wir haben es mit dem konzentrierten Angriff auf die materiellen und ideellen Bestände und Errungenschaften der westlich-europäischen Welt zu tun, der sowohl von außen wie aus den eigenen Untiefen kommt. Die Vorschläge, um sein „großes Experiment“ zu retten, wirken betulich und weltfremd. Die „strategische Wahl“, der erklärte Verzicht auf gedankliche Kohärenz, läßt jeden vernünftigen Einwand ins Leere laufen. Fazit: Kein Meister, nirgends, ist in Sicht, der den außer Rand und Band geratenen Geisterbesen zurück in die Ecke zwingt.

Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024, gebunden, 505 Seiten, 28 Euro