© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Erinnerung an einen Stummgeschalteten
Raymond Unger war Freund und Weggefährte des Philosophen und Autors Gunnar Kaiser, der 2023 früh verstarb – verschlissen von der Cancel Culture, die den unbequemen Geist sozial ins Abseits stellte
Lothar Karschny

Sie kennen Gunnar Kaiser nicht? Kein Wunder. Der Grund ist einfach: Gunnar Kaiser ist ein Opfer der medialen Ausgrenzung, der „Cancel Culture“. Schärfer formuliert: ein Opfer der Verbannung durch unser politisch-mediales Regime. So jedenfalls die Auffassung seines Freundes und engen Wegbegleiters Raymond Unger, der dem Philosophen, Autor und Videoblogger ein Erinnerungsbuch gewidmet hat: „Habe ich genug getan? – In memoriam“. Denn Gunnar Kaiser ist am 23. Oktober 2023 im Alter von nur 47 Jahren verstorben. 

Kaiser war von Hause aus Philosoph, arbeitete bis 2021 als Studienrat in Köln und wurde durch seinen Youtube-Kanal „Kaiser-TV“ ab 2019 bundesweit bekannt. Als intellektueller Moderator ist er ein mediales Ausnahmetalent. Wie kaum einem anderen gelingt es ihm, seinem Publikum komplexe Themen aus dem Stegreif und gut verständlich, mit sonorer Stimme und in druckreifem Deutsch nahezubringen. „Kaiser-TV“ avanciert zum Star in der alternativen Medienszene, 2022 werden 258.000 Follower erreicht, für einen unabhängigen Einzelkämpfer eine beachtliche Reichweite. Sein Roman „Unter der Haut“ wird zum Bestseller und in sechs Sprachen übersetzt, er ist gefragter Autor in Zeitungen wie NZZ oder Welt und findet Anerkennung als „philosophisch beschlagener und redegewandter Kritiker der Machtanmaßungen des Staates“.  Unter normalen Umständen „wäre ihm ein Platz in der ersten Reihe der etablierten Sender sicher gewesen“, urteilt Raymond Unger.  

Aber Kaiser ist Philosoph, ihm geht es um Wahrheit. Er entscheidet sich gegen eine Mainstream-Karriere und wird über Nacht zur „Persona non grata“. Anlaß ist sein „Appell für freie Debattenräume“. Kaiser ergreift hierbei die Inititive, und Boris Palmer, Dieter Nuhr und Günter Wallraff und viele andere unterschreiben: „Wir möchten das unselige Phänomen der Kontaktschuld beenden“. Sie solidarisieren sich mit den „Ausgeladenen, Zensierten, Stummgeschalteten“. Als Kaiser Zweifel an den Corona-Maßnahmen der „Gates-Vertrauten“ Merkel äußert, dahinter die „Spitze eines schleichenden Machtumbaus“ mittels „moralisierter Angstnarrative“ wittert und die Frage nach einer „globalen oligarchischen Konspiration mit zusammengekauften Wissenschaftlern, Medienkartellen und (...) Politikern“ aufwirft, landet er im Ghetto der Ausgegrenzten. Mit seiner Kritik am „Great Reset“ als einem globalen Weltmasterplan verläßt er endgültig den Boden der tolerierten Meinungspluralität. Die „Cancel Culture“, also die brutale Auslöschung von Gegenstimmen, für die sich die Inquisitoren aller Couleur das Prädikat „Kultur“ zubilligen, schlägt zu. Doch Kaiser läßt sich nicht beirren. Er fürchtet einen neuen Totalitarismus, eine technokratische Machtergreifung, die dem Heer der „informierten“ Bürger unsichtbar bleibt. Seine Mission heißt Aufklärung.

Er lädt weiter Verfemte zum Gespräch, selbst Martin Sellner und Ken Jebsen kommen zu Wort. Er schließt keine Themen aus, Bargeldabschaffung, Impfstoffspekulation und Genderfeminismus sind dabei. „Massenbildung“ ist Kaisers Thema, sein Videoblog richtet sich gegen die Angst-Kulte der Gegenwart, gegen „Killerviren“ und „Klimahölle“, welche die unmündigen Massen auf Linie bringen. Daß er dabei nur wenige erreicht, bedrückt ihn. Selbst als er 2021 die Diagnose Speiseröhrenkrebs erhält, arbeitet er rastlos weiter und fragt sich unablässig: „Habe ich genug getan?“ Sein Blog verschiebt sich zu Glaubensfragen, der religiöse Kern menschlicher Existenz erscheint ihm sichtbar. 

Raymond Unger, auch als ganzheitlicher Therapeut tätig, erkennt auch die Folgen einer durch die mediale Aggression erschöpften Widerstandskraft, die am Ende im Alter von 47 Jahren zum Tode führt. Ein anderer Dissident stirbt auch mit 47: Alexej Nawalny. Im Straflager in Sibirien. Der Gedanke: „Kaiser – ein deutscher Nawalny?“ scheint verwegen. Schließlich ist der russische Regimekritiker tausendmal bekannter. Nawalny gilt als Märtyrer und wird unter großer Anteilnahme der deutschen Medien zu Grabe getragen. Kaiser dagegen stirbt in eiskalter Verbannung, so wie sich die Herren im Kreml das für ihren Regimegegner eigentlich gewünscht hätten und die hierzulande es sich für den ihren wohl wünschten. In der deutschen Version von Wikipedia ist er jedenfalls ausgelöscht.

In beiden Fällen gilt: Opfer ist nicht nur die Leitfigur, sondern das ganze Land. Verlust der Freiheit bedeutet ein erzwungenes Leben im Falschen. Für alle. Rußland verliert seine demokratische Hoffnung. Deutschland verliert eine markante Stimme, die gegen eine freiheitlich-demokratische Scheinrealität aufgestanden ist, so die Meinung von Raymond Unger. Beide hinterlassen eine Spur von Aufbegehren und Widerspruch. Nawalny lebt ohne Zweifel als Held weiter. In Gunnar Kaiser sieht sein Biograph Raymond Unger einen der wenig bekannten Helden unserer Gegenöffentlichkeit. Kaisers Frage „Habe ich genug getan?“ ist für ihn eine zeitlose Mahnung.

Raymond Unger: Habe ich genug getan? In memoriam Gunnar Kaiser. Europa Verlag, Berlin 2024, gebunden, 192 Seiten, 17 Euro