© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Die deutsch-deutsche Entfremdung
Die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld richtet in ihrer „Parallelgeschichte“ den Fokus auf das Auseinanderdriften der Teilstaaten zwischen Gründung und der Wiedervereinigung
Erik Lommatzsch

Es ist noch gar nicht so lange her, da wirkte hierzulande die Jubiläumsfreudigkeit, mit der nahezu jeder „runde“ historische Jahrestag gewürdigt wurde, fast übertrieben. Dauerpräsent waren Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, Fernsehdokumentationen, Ausstellungen und andere Veranstaltungen. Daß wir derzeit mit einem Abstand von 75 Jahren auf 1949 blicken, wird hingegen kaum öffentlich wahrgenommen. Grundgesetz, die Formierung der Bundesrepublik, die Gründung der DDR – von Bedeutung scheint dies alles nicht so recht zu sein. Zentrale Wegmarken der deutschen Zeitgeschichte finden spürbar wenig Beachtung, wobei sich im Fall von Grundgesetz und Bundesrepublik vielfache Möglichkeiten einer positiven, bei Bedarf sogar regierungsnahen Würdigung geradezu aufdrängen müßten. Fehlende Präsenz impliziert allerdings nicht zugleich eine Aussage über fehlendes historisches Interesse. 

Daher ist es erfreulich, daß dieses doch ab und an bedient wird. Ursula Weidenfeld, ausgewiesen vor allem als Wirtschaftsjournalistin, hat es unternommen, mit „Das doppelte Deutschland“ eine Geschichte der Zeit der Teilung vorzulegen, die laut Titel 1949 beginnt, offenbar wegen des Jubiläums, im Buch selbst allerdings schon mit dem Kriegsende 1945 einsetzt und bis zur staatlichen Einheit von 1990 führt. Die Autorin stellt zu Anfang klar, daß es ihr nicht um eine umfassende historische Darstellung der Epoche gehe, vielmehr versuche sie „an bestimmten Punkten eine Tiefenbohrung“. Ihr Hauptinteresse gilt der noch immer deutlich empfundenen Unterschiedlichkeit von „Ostdeutschen“ und „Westdeutschen“. Mit Blick auf die über vierzigjährige Teilung erklärt sie einleitend: „Die getrennte Geschichte scheint vielfach stärker zu sein als die vereinte.“

Diese These liegt den jeweiligen „Tiefenbohrungen“ Weidenfelds zugrunde, nicht im Sinne einer offenen Frage, sondern im Bestreben nach Untermauerung. Sehr früh, zu früh, setzt sie das alternativlose Auseinanderdriften der Besatzungszonen an. Um eine „Wieder“-Vereinigung auf Augenhöhe habe es sich im Jahr 1990 gar nicht handeln können, da ein Deutschland in dieser Form zuvor nicht existent gewesen sei. Der Zeitraum dazwischen sei charakterisiert durch eine Wettbewerbssituation und eine immer stärkere Verfestigung einer Zweistaatlichkeit, bedingt durch die Interessen der Besatzungsmächte, die Gegebenheiten des Kalten Krieges und das entsprechende Handeln der eigenen Führung. Der Großteil der Bevölkerung habe diese Entwicklung wenn nicht begrüßt, so zumindest hingenommen und sich darin eingerichtet. 

Nicht immer förderlich für die Lesbarkeit ist das Bestreben der Autorin, eine „Parallelgeschichte“ der beiden Teilstaaten zu erzählen, um die Ereignisse in einer Form zu verweben, die zu Unübersichtlichkeit, vor allem in chronologischer Hinsicht, und Redundanzen führt. Was es mit dem „Marshallplan“ und der Etablierung des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ auf sich hat oder daß in der sowjetischen Zone bei der Besetzung von Ämtern in der Anfangszeit politisch liberal verfahren wurde, ist mehrfach in sehr ähnlicher Form zu erfahren. Es handelt sich auch nicht um die erste deutsch-deutsche „Parallelgeschichte“. Christoph Kleßmann hat hier zumindest für den Zeitraum von 1945 bis 1970 bereits vor Jahrzehnten ein umfassendes, besser strukturiertes Werk vorgelegt, aus dem Weidenfeld auch zitiert. Sachliche Nachlässigkeiten stören – Helmut Kohl besuchte 1988 nicht zum ersten Mal in seinem Leben die DDR, und Stalin ließ sich kaum durch Walter Ulbricht beim Pakt mit Hitler beraten.

Betont Weidenfeld einerseits die Offenheit der Entwicklungen und beklagt, daß die Geschichte der DDR in der Regel „von hinten“ erzählt werde, „die übliche Strafe für gescheiterte Staaten“, so läuft sie doch selbst in derartige Ex-post-Fallen. Keinesfalls war es, wie hier suggeriert, schon 1945/46 ausgemacht, daß der frühzeitig wieder politisch aktive Konrad Adenauer seine Karriere in der uns bekannten Form fortsetzen würde. Überlegungen zum Potential der Stalin-Note würden nicht zur These des Buches passen und finden daher nicht statt.

Das immer weiter Trennende im geteilten Deutschland illustriert für die Autorin etwa der Aufstand vom 17. Juni 1953, der letztlich im Ergebnis Ulbricht und das DDR-System stabilisierte und der Bundesrepublik einen Feiertag bescherte, der zunächst noch Anlaß gut formulierter Lippenbekenntnisse war und später vor allem wegen des Freizeitaspekts geschätzt wurde. Oder natürlich der Mauerbau vom 13. August 1961, der von der westlichen Führung eher erleichtert hingenommen wurde. 

Das Jahr 1968 hatte für beide Teilstaaten große Bedeutung, allerdings in völlig verschiedener Hinsicht. In der DDR blickte man zunächst hoffnungsvoll, dann enttäuscht auf den Prager Frühling und dessen gewaltsame Niederschlagung, während es in der Bundesrepublik von links revoltierte. Erkennbar sei das Auseinanderdriften beispielsweise auch am Sport auf internationaler Bühne oder bei den jeweiligen Versuchen, historische Linien für sich zu „entdecken“. Ein Kuriosum ist hier sicher die Besinnung der DDR auf Martin Luther im Jubiläumsjahr 1983. Spätestens mit der sozialliberalen Ostpolitik war die Teilung quasi auch regierungsamtlich akzeptiert gewesen.

Darüber, ob die DDR 1990 wirklich unterging, wie Weidenfeld schreibt, oder doch eher mit einem unguten, heute wieder spürbaren Erbteil in der Bundesrepublik aufgegangen ist, mag man streiten. Daß die Entfremdung infolge der Teilung wesentlich länger nachwirkt, als anzunehmen gewesen wäre, dürfte eine Tatsache sein. Das Schlußkapitel zeigt den redlichen „Ostdeutschen“ als den Verlierer des politischen Umbruchs von 1989 schlechthin. Ob derartiges zur Annäherung beiträgt, sei dahingestellt.

Ursula Weidenfeld: Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte 1949–1990. Rowohlt Verlag, Berlin 2024, gebunden, 416 Seiten, 25 Euro