© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/24 / 15. März 2024

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Samstagabend, ein im Wortsinne einzigartiger Musikclub im Norden Berlins. Das Lokal ist gut besucht, die amerikanische Küche läßt kaum Wünsche offen. Zur Dekoration gehören Jack-Daniel’s-Utensilien, Route 66-Schilder und für die Bierauswahl gilt: „Our beers are as cold as your ex-wife!“ Eine Live-Band sorgt für ordentlich Stimmung, keep on rockin’ in the free world . Nach drei Zugaben bedankt sich der Sänger nicht nur beim ausgelassen applaudierenden Publikum, sondern auch beim Kneipenwirt und seinem Team dafür, daß es solche Auftrittsmöglichkeiten noch gibt, seien sie doch in den letzten Jahren immer weniger geworden. Viel zu viele Gaststätten hätten schließen müssen. Tatsächlich ist die Entwicklung besorgniserregend. Allein in meinem Stadtteil machen wenige hundert Meter voneinander entfernt Ende dieses Monats zwei traditionsreiche Gasthäuser dicht, ein seit achtzehn Jahren bestehendes Fischrestaurant und ein Restaurant mit gutbürgerlicher deutscher Küche, das über fünfundzwanzig Jahre hier existierte. Erst im Februar hatte die Kultinstitution „Loretta am Wannsee“ mitgeteilt, daß sie ihre Pforten schließt. Ein Trend, der sich auch bundesweit bestätigt. So ist nach Angaben des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) die Anzahl der umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen im Gaststättengewerbe – dazu zählen unter anderem auch Imbißstuben und Discotheken – stark rückläufig, von 164.789 im Jahr 2019 auf 146.251 Betriebe im zuletzt erfaßten Jahr 2022. Wahrlich keine guten Zeiten für die Gastronomie.

„Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“(Franz Kafka, 1883–1924)


„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen“, schreibt der Schriftsteller Franz Kafka Ende Januar 1904 an seinen ehemaligen Mitschüler, den Kunsthistoriker Oskar Pollak. „Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“ Gute Frage, wie ich finde. Deswegen lese ich in diesem Kafka-Jubiläumsjahr – Anfang Juni jährt sich sein Todestag zum hundertsten Mal – gerade noch einmal seinen Roman „Der Prozeß“ mit dem berühmten ersten Satz: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Das Werk wurde soeben im Wallstein-Verlag neu herausgegeben und kommentiert von dem Kafka-Biographen Reiner Stach. Sein profundes Nachwort bietet zudem einen Überblick über Entstehung, Überlieferung und Wirkungsgeschichte. Parallel dazu dürfte sich die von Matthias Matussek („Franz Kafka trifft ins Herz“) kürzlich in der Schweizer Weltwoche (Ausgabe vom 22. Februar) enthusiastisch besprochene Kafka-Deutung von Rüdiger Safranski aus dem Hanser-Verlag empfehlen.

Franz Kafka: Der Process. Roman. Herausg., kommentiert und mit einem Nachwort von Reiner Stach. Wallstein Verlag, Göttingen 2024, gebunden, 397 Seiten, 34 Euro