© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/24 / 08 März 2024

Ein Stern am mittelalterlichen Himmel
Zum 750. Todestag des wegweisenden Kirchenlehrers Thomas von Aquin
David Engels

Bernhard von Chartres formulierte einst in typisch mittelalterlicher Demut angesichts des gewaltigen Erbes, das die Antike dem Abendland vermacht hat, „wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt“. Im Europa des 21. Jahrhunderts stellt sich die Frage, was wir Heutigen dann überhaupt noch sind. Denn dank der gewaltigen wissenschaftlichen Leistungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben wir Antike wie Mittelalter fraglos weit übertroffen. 

Doch zum einen gehören diese Anstrengungen einer immer weiter zurückliegenden Vergangenheit an, die wir angesichts eines völlig verfallenden Bildungssystems nur noch durch gelegentliche Anwendungstechniken ergänzen, während echte Innovation längst auf anderen Kontinenten zu Hause ist. Zum anderen kann kaum übersehen werden, daß jener rein quantitative Fortschritt um den Preis einer gefährlichen Spezialisierung der ursprünglichen „universitas“ erkauft wurde und neben einer gewaltigen Perspektivverengung auch mit einer Abschneidung des Einzelnen von Moral und Trans­zendenz einherging, ohne welche die gräßliche Instrumentalisierung des Fortschritts im Dienste von Massenmord, Totalitarismus und Transhumanismus nicht denkbar wäre. Kurzum: Wer immer das „dunkle“ Mittelalter gegen eine „leuchtende“ Gegenwart ausspielt, täte gut daran, nicht nur ein zweites Mal in den Spiegel zu schauen, sondern sich auch intensiver mit der ersten Hälfte abendländischer Geschichte auseinanderzusetzen – und zwar jenseits des Zerrbilds einer „Aufklärung“, die wenig von dem gehalten hat, was sie einst versprach.

Ein intensives Lehr- und Wanderleben quer durch Europa

Ein ideales Beispiel hierfür ist Thomas von Aquin, dessen ins Jahr 1274 fallenden Todestag wir am 7. März begehen. Im Aquinaten finden wir nicht nur einen der geistigen (und geistlichen) Stammväter der abendländischen Kultur, sondern auch einen Menschen, dessen Leben wie aus einem Roman zu stammen scheint – und dessen ungebändigte Schaffenskraft uns Heutigen nahezu unverständlich ist.

Thomas wurde 1225 als jüngster Sohn des Grafen Landulf von Aquin bei Roccasecca etwa hundert Kilometer südöstlich von Rom geboren, eines treuen Anhängers Kaiser Friedrichs II. von Hohen-staufen; also in einer Zeit, die überall in Europa von wissenschaftlichen Durchbrüchen, vom Wachsen stolzer Städte, vom Bau gewaltiger gotischer Kathedralen, von der Verbreitung der „staufischen Renaissance“, von der Pflege des christlich-heroischen Rittertums, von der Gründung von Universitäten, von tiefer Frömmigkeit, von der Urbarmachung weiter Teile des Kontinents durch zahllose Klöster mit hochentwickelter Wasser- und Schmiedetechnik und von intensiven wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kontakten mit der byzantinischen und muslimischen Welt geprägt war – eine in jeder Hinsicht „leuchtende“ Epoche des Abendlandes.

Thomas war für eine geistliche Laufbahn vorgesehen und in jungem Alter in die Benediktinerabtei Montecassino, 1239 dann an die Universität Neapel geschickt worden, wo er nicht nur in Kontakt mit dem Denken Aristoteles’ geriet, sondern auch den 1216 entstandenen Orden der Dominikaner kennenlernte, dessen Ideal von Armut und Wanderpredigertum ihn so tief beeindruckte, daß er ihm 1244 trotz Widerstands seiner Familie beitrat. Diese hatte für Thomas eine Laufbahn bei den Benediktinern erhofft und hielt den Sohn etwa ein Jahr auf verschiedenen Burgen fest, um ihn zur Raison zu bringen – der Legende nach wurde dabei auch erfolglos eine Kurtisane eingesetzt. Doch letzten Endes scheiterten diese Versuche an der Hartnäckigkeit des Aquinaten, der daraufhin im Dienste der Dominikaner ein intensives und allein in Fußmärschen bestrittenes Lehr- und Wanderleben quer durch Europa aufnahm.

Ab 1245 studierte er in Paris, seit 1248 dann in Köln bei Albertus Magnus und nahm 1252 an der Sorbonne eine Lehrtätigkeit an der theologischen Fakultät auf, wo er nicht nur im „Medikantenstreit“ an der Apologie der Bettelorden beteiligt war, sondern auch – ein Fixpunkt seines Denkens – in die Debatte um die Aristoteles-Auslegung des Averroes eingriff. Hierauf folgten seit 1259 intensive Wanderjahre, die den Aquinaten nach diversen Aufenthalten vor allem nach Orvieto (1261 bis 1265) und Rom (1265 bis 1268) führten, die Übernahme zahlreicher Pflichten beim Aufbau des dominikanischen Lehrbetriebs und den Beginn der Niederschrift seines Hauptwerks sahen, der „Summa theologiae“. Von 1268 bis 1272 lehrte Thomas erneut in Paris, wo er seinen eigenen Aristotelismus gegen die Interpretationen der lateinischen Averroisten Siger von Brabant und Boethius von Dacien verteidigen mußte und eine immense literarische Produktivität entwickelte, offensichtlich aber auch schweren Raubbau an seinen Kräften betrieb.

1272 kehrte er nach Neapel zurück, wo er ein Generalstudium mit ausgewählten Studenten organisierte, am Nikolaustag 1273 aber nach einer mystischen Vision die Arbeit am letzten Band seiner „Summa“ mitten im Traktat über das Bußsakrament abbrach und äußerte: „Ich kann nicht mehr. Alles, was ich geschrieben habe, erscheint mir wie Spreu, verglichen mit dem, was ich geschaut habe.“ Er machte sich zwar noch auf den Weg zum Konzil von Lyon, starb aber am 7. März 1274 in der Abtei Fossanova. Die Gebeine wurden mehrfach umgebettet und 1369 schließlich nach Toulose überführt; der Gedenktag an diese Translation (der 28. März) ist seit 1970 auch der Gedenktag des 1323 heiliggesprochenen und zur Ehre eines Kirchenlehrers erhobenen Thomas von Aquin.

Thomas’ Leben kann nicht von seinem gewaltigen Werk getrennt werden, dessen deutsche Ausgabe auf vierzig Bände angelegt ist und zu dessen Produktion er jährlich, wie man ausgerechnet hat, im Schnitt 4.000 Seiten niederschreiben mußte – kein Wunder, daß er bis zu vier Sekretäre gleichzeitig beschäftigte und bis in den frühen Morgen diktierte. Schulmaterialien, Streitschriften, Kommentare zu Aristoteles sowie anderen Philosophen und selbstverständlich zu verschiedensten Schriften des Alten und Neuen Testaments, Hymnen zum Fronleichnamsfest und natürlich die eigenen theologischen Hauptschriften, die „Summa contra gentiles“ und die „Summa theologiae“ – das Werk des Thomas ist schier unermeßlich und kann hier nicht einmal im Ansatz gewürdigt werden.

Betonen wir zunächst nur ganz generell, daß bereits sein enzyklopädischer Ansatz sowie seine umfassende Bildung, seine glasklare und unaufgeregte Argumentation und sein ehrliches Bemühen um Zusammenschau logisch-philosophischer Erkenntnisse und theologischer Offenbarung den Aquinaten notgedrungen zu einem Fixstern am Himmel der mittelalterlichen Scholastik machen mußten, ohne den die weitere Geschichte von Theologie (und Philosophie) im Abendland kaum verstanden werden kann. Greifen wir zudem zwei Besonderheiten seiner innerphilosophischen Standortbestimmung heraus, die wesentlich im Kontext des Streits um die „richtige“ Interpretation des Aristoteles verankert war; jenes enzyklopädischen Denkers, der zwar (im Gegensatz zur politisch-korrekten Legende) keineswegs erst durch Vermittlung des Islams wieder nach Europa eingeführt werden mußte, da es nie an griechischen Ausgaben und lateinischen Übersetzern gefehlt hat, wie Sylvain Gouguenheim gezeigt hat, der aber in der Tat vor allem im 12. und 13. Jahrhundert in den Vordergrund des geistigen Interesses des Abendlands gerückt war.

Der „ganze“ Mensch ist weder nur Leib noch nur Geist oder Seele

Zentral ist dabei auf der einen Seite Thomas’ Distanzierung von der Aristoteles-Interpretation des damals überaus populären Averroes mit seinen als häretisch betrachteten Ansichten zur Ewigkeit der Welt, zur Leugnung der Willensfreiheit, zur grundsätzlichen Trennung zwischen Philosophie und Theologie und zur Ablehnung der individuellen Unsterblichkeit, da das einzig Unsterbliche am Menschen der Intellekt sei, der allen gleichermaßen zu eigen sei und an dem er nur teilhabe – Positionen, die diejenigen der Renaissance vorwegnehmen, und die Thomas systematisch kritisierte. Thomas stemmte sich auf der anderen Seite aber auch gegen den neoplatonisch-augustinischen Idealismus mit seiner Trennung zwischen materieller Schöpfung und geistigen Prinzipien, wie sie bislang ein Fundament christlicher Lehre in Früh- und Hochmittelalter gewesen war. Thomas etwa bestritt im Gegensatz zum Augustinismus, daß im Menschen mehrere gestaltgebende Prinzipien wirken, und führte selbst die Gotteserkenntnis auf eine bloße Variante der Sinneswahrnehmung zurück, nicht auf eine besondere, außermaterielle Qualität. 

Ähnlich verwahrte Thomas sich dagegen, „Seele“ und „Leib“ gegeneinander auszuspielen, und betrachtete vielmehr erst deren Seinseinheit als jenen „ganzen Mensch“, der Subjekt der Beziehung zu Gott sei. Wir finden also bei Thomas eine starke Bejahung der Schöpfungswirklichkeit als Teil des göttlichen Heilsplans – kein Wunder, daß Thomas in der Reformation dann als allzu „hellenisch“ betrachtet wurde und Luther auf dem Marktplatz von Wittenberg zugleich mit der päpstlichen Bulle auch die „Summa theologiae“ des Aquinaten verbrennen wollte, wobei sich der Legende nach niemand fand, der für dieses Autodafé sein eigenes Exemplar hergeben wollte.


Prof. Dr. David Engels lehrte Römische Geschichte in Brüssel und forscht derzeit am Posener West-Institut (Instytut Zachodni).Ein Plädoyer für einen „ganzen“ Mensch, der weder nur Leib noch nur Geist oder Seele ist; eine Bejahung einer Natur, die zwar in vielerlei Hinsicht „gefallen“ ist, trotzdem eine unhintergehbare Schöpfungswirklichkeit darstellt und den eigentlichen Schauplatz des Ringens des Einzelnen um Gott ausmacht; und natürlich eine tiefe Liebe zu jener Transzendenz, die uns allzeit umfängt und unser irdisches Sein definiert, gleichzeitig aber aufgrund unserer kreatürlichen Begrenzungen in letzter Instanz „unfaßbar“ bleiben und nur als Gnade, wie in Thomas letzten Lebensmonaten, „erschaut“ werden kann – wir täten im Zeitalter von künstlicher Intelligenz, Massenmord an ungeborenen Kindern, Transhumanismus, Naturkult und ungebändigtem Hedonismus gut daran, uns an jene eigentlichen Fundamente der abendländischen Zivilisation zu erinnern, bevor es zu spät ist.

Bild: Benozzo Gozzoli „Der Triumph des Heiligen Thomas von Aquin“, Tempera auf Holz 1471: Starke Bejahung der Schöpfungswirklichkeit als Teil des göttlichen Heilsplans