© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/24 / 19. Januar 2024

Den Herausforderungen nicht gewachsen
Peter Seidel fordert, daß Deutschland außen- und sicherheitspolitisch sein „selbstgebautes Wolkenkuckucksheim“ verläßt
Michael Wiesberg

Die von Bundeskanzler Scholz nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 verkündete „Zeitenwende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist bisher ohne wirkliche Konsequenzen geblieben. Peter Seidel, ehemals politischer Referent für Sicherheits- und Europapolitik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle und derzeit als Berater in Frankfurt am Main tätig, versucht in seinem neuen Buch darzustellen, warum das so ist und wie der Weg zu einer strategisch ausgerichteten Außenpolitik aussehen könnte. Sein Buch besteht aus einer Sammlung seit 2014 veröffentlichter Essays, die von einer aktualisierten Einführung und einem Ausblick umrahmt werden. 

Als gravierendes Defizit deutscher Außenpolitik diagnostiziert Seidel deren Unfähigkeit, sich auf Änderungen des „internationalen Umfelds rechtzeitig einzustellen“. Diese Unfähigkeit mache sich besonders seit der Krim-Annexion Rußlands bemerkbar. Seidel kreist sieben Themenfelder ein, um sein Anliegen zu illuminieren und erörtert die Prämissen einer eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik beziehungsweise die „Optionen für eine strategische Kultur“. Von hier aus schlägt er den Bogen über Themenfelder wie „nukleare Teilhabe“, Bundeswehr oder sicherheitspolitische Fragen seit 2014 bis hin zur deutschen Europapolitik und ausgewählten Beiträgen zur Geschichte der Außenpolitik. 

Im Rahmen einer geopolitischen Lageanalyse kommt er zu dem Schluß, daß die drei wichtigsten europäischen Großmächte, nämlich Frankreich, Großbritannien und Deutschland, „fast nur noch nach innen schauten“, seit sie Macht und Kolonien verloren haben. Ganz anders agierten die „drei Weltreiche“, also die USA, China und Rußland, die als „nationalstaatlich organisierte Imperien“ aufträten. Europa hingegen sei im Zeichen der Global-Governance-Theorien durch eine Delegitimierung der Nationalstaaten und staatlicher Souveränität gekennzeichnet. Daß Seidel kein Anhänger dieser Theorien ist, die auf die Setzung abheben, internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen ließen den Nationalstaat zunehmend zu einer Art Quantité négligeable werden, läßt er des öfteren durchblicken. 

Es ist diese Gemengelage, gepaart mit der „Zementierung überholter Mentalitäten“, die aus der Sicht Seidels dazu führt, daß die EU den aktuellen geopolitischen Herausforderungen „nicht gewachsen“ ist. Das gelte insbesondere für Deutschland, bei dem die von dem Politologen Hans-Peter Schwarz festgestellte „Antifa-Ideologie der DDR und der von den 68ern angestoßene“ und dann bald von „allen Parteien übernommene quasireligiöse Kollektivschuldkult mit Auschwitz im Zentrum“, die zum „Kern einer neuen Zivilreligion gemacht“ wurde, erschwerend hinzukomme. Die Folge sei, daß die „Grundlage europäischer Selbstbehauptung gerade in Deutschland von Jahr zu Jahr mehr“ erodiere, und zwar auch deshalb, weil eine europäische Außenpolitik gegen Deutschland, den „selbsternannten Financier Europas“, kaum möglich sein dürfte.

„Europäische Sicherheitsunion“ ist immer noch eine Chimäre

 Diese Erosion zeitigt aus deutscher Perspektive unter anderem in der Sicherheitspolitik, sprich der Gefahrenabwehr nach außen, bedrohliche Konsequenzen. Die vielbeschworene „europäische Sicherheitsunion“, die die Abhängigkeit vom Schutzschirm der Nuklearmacht USA lockern soll, ist immer noch eine Chimäre. Soll es hier zu einer „kopernikanischen Wende“ kommen, dann bedarf es eines grundlegenden Bewußtseinswandels, nämlich dergestalt, daß es keiner Sicherheit vor Deutschland mehr bedürfe, sondern daß Sicherheit mit und durch Deutschland ermöglicht werden muß, wie Seidel hervorhebt. Er ist aber Realist genug, um einzugestehen, daß die Entwicklung der dafür notwendigen strategischen Kultur in Deutschland und Europa in den Sternen stehe. 

Der Zustand der Bundeswehr rundet das ernüchternde sicherheitspolitische Bild ab, das Seidel zeichnet. Vor dem Hintergrund eines Buches des Militärhistorikers Sönke Neitzel kommt er zu dem Schluß, daß Deutschland verteidigungspolitisch „ein gescheiterter Staat“ sei, eine „Reformruine“. Ob daran das erklärte Ziel des derzeitigen Verteidigungsministers, Boris Pistorius, nämlich die Bundeswehr „kriegstüchtig“ zu machen, etwas ändert, muß mit guten Gründen bezweifelt werden. 

Das alles wiegt schwer vor dem Hintergrund der Herausforderungen der durch den Ukrainekrieg ausgelösten „Zeitenwende“. Seidel insistiert angesichts der Bilanz seiner Lageanalyse darauf, daß Deutschland eine „Generalüberholung seiner politischen Kultur“ mit dem Ziel einer „strategischen Kultur“ brauche und sein „selbstgebautes Wolkenkuckucksheim“ verlassen müsse. 

Das ist alles richtig, setzt aber einen politischen Willen zur Selbstbehauptung und ein Mindestmaß an souveräner politischer Entscheidungsmacht voraus. Wie es darum mit Blick auf Deutschland bestellt ist, zeigt exemplarisch das Ruchbarwerden eines Spionageskandals vor zehn Jahren, als offenkundig wurde, daß Deutschland durch den US-Geheimdienst NSA systematisch überwacht wird. Der Publizist Jakob Augstein war damals einer wenigen, die sich trauten, die Bedeutung der Vorgänge ins Wort zu setzen, als er im Spiegel feststellte, daß „wir ein Ziel“ der US-Amerikaner seien und „keine Verbündeten“. Mit „diesen USA könnten wir nicht mehr rechnen“, resümierte Augstein; darauf werde sich die deutsche und die Sicherheits- und Außenpolitik einstellen müssen. Es geschah in der Folge aber nichts dergleichen. Warum, darauf hat Augstein gleich selbst die Antwort mit Blick auf das Schweigen der damaligen Bundeskanzlerin Merkel geliefert: „Merkel wußte, (…) daß lautstarker Protest sinnlos, ja gefährlich wäre.“ Daraus kann nur ein Schluß gezogen werden: Offenbar gibt es Bereiche auf der Bühne der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die im Dunkeln liegen. Womöglich liegt hier die Erklärung dafür, warum es der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an einer „strategischen Kultur“ gebricht. 

Peter Seidel: Zeitenwende – aber wohin? Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik. Gerhard Hess Verlag, Uhingen 2023, gebunden, 208 Seiten, 18,90 Euro