© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/24 / 19. Januar 2024

Auf der Suche nach dem Glück der Kindheit
Unterwegs in Griechenland
(wm)

Als Reiseschriftsteller zählt der gebürtige Tiroler Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861) auch heute noch zu den herausragenden Stilisten deutscher Zunge. Als einer der großen Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts ist er jedoch nahezu vergessen. Im kollektiven Gedächtnis präsent ist allenfalls seine provokante These, die neuzeitlichen Griechen seien keine Nachfahren der antiken Hellenen, sondern stammten von Slawen ab, die jene während des „Großen Austausches“ der Völkerwanderungszeit verdrängt hätten. Stefan Lindinger und Evi Petropoulou (Universität Athen) betreten daher Neuland, wenn sie Fallmerayers Bild vom antiken Griechenland  vergleichen mit dem, das Hugo von Hofmannsthal in seinen Reiseimpressionen „Augenblicke in Griechenland“ (1912) zeichnet (Jahrbuch für Internationale Germanistik, 54/2022; erst im vorigen Jahr ausgeliefert). Beide Autoren sind enttäuscht, weil sie das klassische Arkadien deutscher Bildungsbürger nur als ödes, karstig-entwaldetes Trümmerfeld vorfinden. Fallmerayer weicht darum an die einst griechisch besiedelte türkische Schwarzmeerküste aus, wo sich die von ihm erträumte grüne Ideallandschaft der Antike erhalten hatte, während der in Attika wandernde von Hofmannsthal seinen Frust ins Positive einer Apologie der Kargheit und einer Apotheose des „griechischen Lichts“ wendet. In diesen Ausweichbewegungen sei der Kern ihrer auf die Antike projizierten modernekritischen Glückserwartungen jedoch bewahrt worden: die erstrebte Erfahrung nicht entfremdeter Existenz des „Ungeschiedenseins“, wie sie jeder Mensch in der Entwicklungsphase der Mutter-Kind-Einheit erlebe. 


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