© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/24 / 12. Januar 2024

Der mit dem Ball tänzelte
Nachruf: Deutschland trauert um seinen vorigen Sonntag verstorbenen Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer
Matthias Matussek

Der Kaiser ist tot. Das klingt genauso bombastisch und tieftraurig, wie es sein soll. Franz Beckenbauer war der demokratisch legitimierte Ersatzkaiser einer Nachkriegsgeneration, die sich eine positive Konnotation dieses Wortes bei Strafe allgemeiner sozialer und politischer Ächtung verkniff. Es hatte sich nun mal eingeschliffen, daß der Kaiser für die Urkatastrophe stand und damit für alle nachfolgenden Schandtaten der Deutschen Verantwortung trug. Wobei stets unterschlagen wird, daß das Kaiserreich zweifellos die bedeutendste und glückhafteste und innovativste sowie im Vergleich zu anderen Mächten weitgehend friedliche Periode der deutschen Geschichte war.

Möglicherweise ist dieser Nachkriegskaiser also  ein Relikt aus dem kollektiven deutschen Wunschapparat. Wem in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als erstem die Bezeichnung „Kaiser“ für den Träger erst der Rückennummer 4, dann der Nummer 5 der deutschen Nationalmannschaft einfiel, das läßt sich kaum ermitteln. Nicht ausgeschlossen, daß es ein Brite war oder ein anderer Ausländer, denn „Kaiser“ ist wahrscheinlich das einzige globale deutsche Ehrfurchtswort. Es geht wohl aber doch zurück auf ein Foto-Shooting, das den Jungspieler neben der Büste des österreichischen Kaisers zeigte. Alle, zuletzt Gary Lineker, rühmten Franz Beckenbauers Leichtigkeit. Jetzt gerade wieder, als er auf die Nachricht seines Todes reagierte. Lineker auf X (vormals Twitter): „Der Kaiser war der schönste aller Fußballer, der mit Anmut und Charme alles gewonnen hat. Ruhe in Frieden.“ 

Wer immer über Beckenbauer spricht oder sprach, verwandelte sich in einen Ballett-Kritiker, was sportlich gesehen absurd ist, denn er glänzte als, ausgerechnet, Abwehrspieler. In der Defensive! Normalerweise ist die Defensive die Domäne der Treter, der Terrier, der Knochenbrecher, der Wasserträger. Nun, die gab es auch, sie waren die Knappen des Kaisers Beckenbauer. Er selber war der ungebundene Freigeist. Er war der Mann, der das Spiel von hinten las und dann seine Pässe schlug oder in spontaner Eingebung selber nach vorn marschierte, ach was, tänzelte. 

Er erfand die Rolle des Libero, des Kaisers.

Seine Haltung erinnerte an tadellosen, wohlerzogenen Adel

Ich war im besten Fußballalter, nämlich zwölf, als auch ich mich entschloß, Beckenbauer zu werden. Pelé war vorher. Als Beckenbauer bei der WM 1966 auflief, war Magie im Spiel. Er schoß ein Tor in der Vorrunde gegen die Schweiz und im Viertelfinale gegen Urugay ebenfalls eines. Doch das waren jeweils nur die Kirschen auf der Torte.

Ich durfte die Partien in einem kleinen Schwarzweiß-Fernseher im Internat schauen, auf der Stella des Aloisiuskollegs mit rund 200 anderen lärmenden Schülern. Danach versuchte ich bei unseren täglichen Bollereien lässig zu traben und Pässe aus dem Fußgelenk zu schlagen. Das war schwerer, als ich dachte, die Mitspieler fluchten, ich solle mich mal mehr reinhängen. Ignoranten. Sie hatten keine Ahnung, daß ich Beckenbauer war.

Als Franz Beckenbauer dann im tragischen Finale 1966 von Bobby Moore gerempelt wurde, daß seine Schulter dislozierte, spielte er mit einer Schlinge um den Arm weiter. Verblüffenderweise änderte das nichts an seiner Haltung auf dem Feld, denn die war immer aufrecht. Ja, er lief mit kerzengeradem Oberkörper über den Rasen wie immer, schoß seine Präzisionspässe aus dem Fußgelenk wie immer, seine Haltung war tadelloser, wohlerzogener Adel, mit einem Wort: kaiserlich.

Er war mehr als nur blutjunger Spielmacher, er war die Autorität, er war der Coach auf dem Platz. Klugerweise ließ ihn Helmut Schön später bei der Weltmeisterschaft 1974 frei schalten und walten, ließ ihn die Mannschaft aufstellen, ließ ihn die Taktik bestimmen, die schließlich in den Gewinn des Titels mündete.

Als Breitner oder Hoeneß oder Gerd Müller dann schwer ausgelassen ihren Sieg feierten, dick mit Zigarre und Bier den großen Larry raushängen ließen, war von ihm dergleichen nicht zu sehen. Ein Kaiser freut sich eher still, wahrscheinlich gemeinsam mit seinem einzigen direkten Vorgesetzten, mit Gott.

Er wuchs im Kleine-Leute-Milieu auf. Sohn eines Posthauptsekretärs, katholisch. Kickte in der Stadtteilmannschaft, wollte eigentlich im Alter von zwölf, also im besten Fußballalter, zum piekfeinen Club 1860 München wechseln, geriet aber mit einem Gegenspieler aneinander, einem gewissen Burschen namens Gerhard König, der ihm eine Ohrfeige verpaßte, so daß er, der Kaiser in spe, aus Trotz zum Proll-Verein Bayern München wechselte. Und zog offenbar Sepp Maier und Gerd Müller, mit denen er in der Regionalliga Süd spielte, mit dorthin. Noch heute büßt 1860 München irgendwo in der Hölle der dritten Liga für diese Ohrfeige.

Meisterschaften, Pokalsiege und Ehrungen aller Art in Serie

Mit 19 vertraute sich Beckenbauer dem Manager Robert Schwan an, der den schüchternen Franz zur Werbung für Knorr-Suppen riet („Kraft in den Teller – Knorr auf den Tisch“) und ansonsten seine Verträge aushandelte und ihm den Rücken für seine Ballzaubereien freihielt. Es folgten Deutsche Meisterschaften und Pokalsiege in Serie mit dem FC Bayern in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, hervorzuheben die europäischen Landesmeister-Titel von 1972 bis 1974.

Zweimal erhielt er den „Ballon d’Or“ als Europas Fußballer des Jahres, 1972 und 1976. Als er schließlich 1977 auch vor der Presse nach New York flüchtete (Eheprobleme) und dort bei Cosmos auf die Legende Pelé stieß, folgten weitere drei Meisterschaften – das für das Heimpublikum wohl Bemerkenswerteste an dieser Zeit allerdings war wohl der Schnappschuß, der dem Stern-Fotografen Volker Hinz gelang, als er die beiden Superstars nackt beim Duschen erwischte.

Nach dieser Zeit folgte die zweite Karriere, die als Trainer. Als er 1986 kurzfristig die Nationalmannschaft von Jupp Derwall übernahm, schaffte er auf Anhieb den Einzug ins Finale gegen Argentinien. Es war die Ära der Briegel und der Förster-Brüder, der spielerisch eher spröden und harten Jungs, an die sich Brasiliens Zauberkünstler Zico im Gespräch mit mir noch 20 Jahre später erinnerte. „Föste“, sagte er und verzog schmerzhaft sein Gesicht. 

Vier Jahre später, im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, schaffte Beckenbauer im Finale in Rom den Titel, und das schwarzrotgoldene Fahnenmeer auf dem Berliner Kudamm war nun ein gesamtdeutsches. Derweil schritt der Kaiser im Stadion fern von seinen im Flutlicht feiernden Spielern einsam über das nächtliche Feld, wahrscheinlich um sich mit seinem Vorgesetzten zu besprechen und still zu feiern.

Natürlich wurde er in der Folgezeit mit Ehrungen aller Art geradezu beworfen und wuchs in die Gestalt des Unberührbaren, der sich selbst die politisch inkorrektesten Sprüche leisten konnte („Ich hab in Katar keine Sklaven gesehen“). Das galt ebenso für sein amouröses Privatleben als dreimal Geschiedener und Vater von fünf Kindern verschiedener Frauen. O-Ton Beckenbauer: „Der liebe Gott freut sich über jedes Kind.“

Er holte die Weltmeisterschaft 2006 zum Sommermärchen nach Deutschland und wurde vom Spiegel und anderen für angebliche (und eher branchenübliche) Durchstechereien verprügelt. Das setzte ihm zu. Trotzdem blieb er freundlich und jedem zugeneigt. Besonders aber erschütterte ihn der frühe Tod seines Sohnes. Er brachte seine letzten Lebensjahre zunehmend krank beim Golfen zu, ließ sich von Zeit zu Zeit ehren und monumentalisieren und rutschte am Ende wohl in die Demenz ab. Womöglich war der Tod eine Erlösung für ihn.

Eigentlich müßte er in der Kapuzinergruft beigesetzt werden. Wenn wir denn eine solche hätten. Kaiser Franz, der Verzauberer. Ich würde einen Kranz dort ablegen mit den schlichten Worten: Danke! Ein 12jähriger Junge und lebenslanger Fan.