© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/24 / 12. Januar 2024

Mehr Herz für unsere Kinder
Ifo-Chancenmonitor: Bildungsrealitäten in Deutschland / Ungerechte Chancenverteilung?
Dirk Meyer

Das deutsche Schulwesen ist ein Sanierungsfall: Ausfall von „planmäßigen“ Unterrichtsstunden im Zehner-Prozentbereich – in NRW wird die statistische Nichterhebung mit der Arbeitsbelastung begründet; Klassengrößen, die einen individuellen Schülerbezug unmöglich machen; bundesweit fehlen trotz Quereinsteigern über 14.000 Lehrkräfte; eine weitgehend gescheiterte Integration; marode Schulen, die, teils auf dem technischen Stand der Jahrtausendwende, den pädagogisch-didaktischen Anforderungen nicht genügen können. Da etwa 58 Prozent der Wahlberechtigten älter als 50 Jahre sind, hingegen die U30-Altersgruppe weniger als neun Prozent ausmacht, erscheint der Rentenzuschuß aus Steuermitteln von derzeit 112 Milliarden Euro politisch opportuner als eine Aufstockung der Ausgaben für Bildung von insgesamt 125 Milliarden Euro.

Die Quittung kam mit der PISA-Erhebung, die im Dezember erschien. Daran nahmen deutschlandweit 6.116 Schüler in 257 Schulen teil. 30 Prozent der 15jährigen verfehlten demnach in Mathematik das Mindestkompetenzniveau und können den Dreisatz etwa zur Beurteilung der Vorteilhaftigkeit eines Sonderangebots nicht anwenden. Beim Lesen sind es 26 Prozent und in den Naturwissenschaften 23 Prozent. Damit ist das Leistungsniveau niedriger als dasjenige, welches zur Jahrtausendwende den ersten PISA-Schock hervorgerufen hatte. Zudem fällt der Leistungsrückgang in Deutschland erheblich größer aus als in anderen Ländern.

Die Bildungschancen vererben sich

Parallel dazu erhob das Münchner Ifo-Institut auf der Basis des Mikrozensus von über 51.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von zehn bis 18 Jahren, wie (un-)gerecht die Bildungschancen in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund verteilt sind. Dazu wurde die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, in Abhängigkeit von vier Kriterien untersucht: die Anzahl der Elternteile mit Abitur, das Haushaltsnettoeinkommen, der Migrationshintergrund der Eltern und ob Alleinerziehende vorlagen. Die Ergebnisse bestätigen alte Weisheiten: Die Bildungschancen vererben sich. Je nachdem, ob kein, ein oder zwei Elternteil(e) ohne Migrationshintergrund das Abitur haben, steigt die Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuchs der Kinder bei gleich hohem Haushaltseinkommen von 39,7 über 64,7 auf 80,3 Prozent an. Auch ist die Spannbreite der Chancen gewaltig. So besuchen lediglich 21,5 Prozent der Kinder mit einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aus dem untersten Einkommensviertel und mit Migrationshintergrund das Gymnasium. Demgegenüber sind es 80,3 Prozent der Kinder bei zwei Elternteilen mit Abitur aus dem obersten Einkommensviertel und ohne Migrationshintergrund. Auch spielt das Geschlecht eine Rolle, denn Mädchen (44,9 Prozent) besuchen ein Gymnasium generell um 6,9 Prozentpunkte häufiger als Jungen (38 Prozent).

Chancengerechtigkeit bedeutet, unabhängig von Geburt und Herkunft seine eigenen Möglichkeiten frei entfalten zu können. Sie ist die Voraussetzung für eine faire und leistungsfähige Gesellschaft. Zugleich sind eine soziale Durchlässigkeit und die Chance zu sozialem Aufstieg Voraussetzungen für die breite Akzeptanz einer ungleichen, leistungsorientierten Gesellschaftsordnung. Eine höhere Bildung wirkt statistisch positiv auf die Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit. Generell sind mit höherer Bildung („Humankapital“) auch wirtschaftliche Aspekte verbunden. So führt ein Abitur zu einem um 42 Prozent höheren monatlichen Nettoeinkommen. Bildung schützt vor Arbeitslosigkeit. Wenn begabte Kinder aus benachteiligten Verhältnissen ihr Leistungsvermögen nicht voll ausschöpfen können, führt dies zu vermeidbaren Wachstumseinbußen, die zugleich einen gesellschaftlichen Verlust darstellen. Gerade als alternde, ressourcenarme Gesellschaft wird die Ausschöpfung von Begabungsreserven zur Notwendigkeit, um unseren Wohlstand zu sichern.

Was sehen die Studien als Ursachen der Bildungsmisere? Offensichtlich mangelt es an einer auskömmlichen Finanzierung, mit der Schulen erneuert und modern ausgestattet werden können. Bei Lehrkräften kommt deren Knappheit hinzu. Allerdings fehlt es mitunter auch seitens der Schüler an elementaren Voraussetzungen. Grundregeln des Benehmens – Höflichkeit und Rücksichtnahme – und ein moralisch-sozialer Wertekompaß müssen im Grundschulalltag häufig vor der eigentlichen Stoffvermittlung gelehrt werden. Eine Aufgabe, die traditionell dem Elternhaus obliegt und zwar unabhängig von sozialem Status, finanziellen Möglichkeiten, Bildung oder Nationalität. Die Schule gerät hier zu einem Reparaturbetrieb, den sie nicht (nebenbei) leisten kann. Hinzu kommen laut den Studien Probleme der Zuwanderung. So hat sich der Anteil der 15jährigen, deren Eltern beide im Ausland geboren wurden, seit 2012 auf 26 Prozent verdoppelt. Neben mangelnden Deutschkenntnissen weisen Schüler mit Migrationshintergrund in der Regel ein ungünstigeres sozioökonomisches Profil (elterlicher Schulabschluß, Einkommen/Vermögen, Wohnort) auf. Nur 16 Prozent besuchen das Gymnasium, 44 Prozent sind es bei 15jährigen ohne Migrationshintergrund. Die Integration wird nicht geschafft – mit Folgen für den Regelunterricht auch für die anderen Schüler.

20-Milliarden-Euro-Programm für 4.000 Brennpunktschulen

Was ist zu tun? Das auf zehn Jahre angelegte „Startchancen-Programm“ in Höhe von 20 Milliarden Euro für 4.000 Brennpunktschulen dürfte bei weitem nicht ausreichen. Ein „Sondervermögen Bildung“, das durch die CO₂-Abgabe und/oder der Erbschaftssteuer zu befüllen wäre, könnte eine nachhaltige, von Wahlzyklen unabhängige Finanzierung sichern. Zudem brauchen die Schulen mehr Möglichkeiten, die Eltern von sich regelwidrig verhaltenden Schülern zu sanktionieren: Anruf 8.30 Uhr bei den Eltern, wenn unentschuldigt gefehlt wird; Aufforderung zur Abholung, wenn ein Schüler wiederholt den Unterricht stört; bei Fortdauer des Verhaltens und mangelnder Kooperation Geldbußen/Kürzungen des Bürgergeldes.

In anderen Ländern zeigt die Unterstützung von Familien benachteiligter Kinder bei der Erziehung in den ersten zwei Lebensjahren durch Hausbesuche von Gesundheitsfachpersonal Erfolge. Der Ausbau frühkindlicher Bildungsangebote für benachteiligte Kinder und der verpflichtende Besuch von Sprachförderung bei unzureichenden Deutschkenntnissen vor der Einschulung wären weitere Maßnahmen. Flexible Vergütungen könnten helfen, um die besten Lehrkräfte an Schulen mit vielen benachteiligten Kindern zu bringen. Virtuelle, differenzierte Lernangebote, kombiniert mit studentischen Mentoren, könnten kostengünstig bei Lerndefiziten zum Einsatz kommen.

Unsere Kinder und Enkel trifft es, demnächst die Verantwortung dafür zu tragen, wie Deutschland dasteht – gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich. Die Verantwortung, ein Gelingen zu ermöglichen, liegt heute bei uns.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

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