© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/24 / 12. Januar 2024

Stadt? Land? Fluß!
Hochwasser: Besuch bei den Betroffenen, die störende Politiker und viele hilfsbereite Mitbürger erlebten
Hinrich Rohbohm

Langsam nähert sich der Zug der niedersächsischen Stadt Verden. Jenem Ort, der unter den anhaltenden Regenfällen der letzten Wochen ganz besonders zu leiden hat. Die Böden sind durchnäßt, können keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen. Zunehmend verwandeln sich Felder und Wiesen in Seenlandschaften, je näher die Bahn an den Ort kommt. Kilometer um Kilometer werden diese Seen immer größer. Es ist eigentlich mitten am Tag, doch der Himmel ist grau, und es regnet. Wieder einmal.

Die Deiche sind durchweicht, drohen an einigen Stellen zu brechen. Einen, maximal zwei Meter schauen sie noch aus den Wassermassen der Aller heraus. Den asphaltierten Weg auf der Deichkrone hat die Polizei abgesperrt, die Stabilität des Bauwerks darf jetzt keinesfalls gefährdet werden. Über der Deichkrone liegen Schläuche. Unentwegt fließt Wasser aus ihnen in den Fluß. Wasser, das hinter dem Deich abgepumpt werden muß, um Überflutungen zu vermeiden. Sandsäcke liegen auf Gullideckeln, um andere Gullis herum befinden sich Haufen von Holzsphnen. Der Grund: Durch das viele Naß ist das Grundwasser gestiegen. Tückisch drückt es nun nach oben, bringt so die Flut in Straßen und Häuser.

Auch zu Robert Weierstrass. Der Rentner wohnt direkt an der nun überfluteten Aller. Vor seiner Terrasse hat er vorsichtshalber schon mal eine Barrikade aus weißen Sandsäcken errichtet. Vor vierzehn Jahren ist er mit seiner Frau von Köln nach Verden gezogen. Ein kleines Haus am Ufer mit direktem Blick auf den Fluß. Davon hatte er stets geträumt. Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr wären jedoch fast zum Albtraum geworden. „Wir hatten noch Glück, nur unser Keller ist vollgelaufen“, erzählt er der JUNGEN FREIHEIT.

„Heiligabend hatten wir hier noch gefeiert“, erinnert sich der 62jährige. Zwei Tage später kommt das Wasser. Das Ehepaar bringt schnell alle Wertgegenstände aus dem Keller nach oben in Sicherheit. Verbunden mit dem beklemmenden Gefühl der Ungewißheit und der bangen Frage, was passiert, wenn das Wasser noch weiter steigt. „Wir hatten Angst, große Angst“, berichtet seine Frau.

Ihr Mann zeigt auf die Aller in Richtung eines Brückenpfeilers. „Wenn über dem Vorsprung des Pfeilers das Wasser steht, dann haben wir die Flut im Wohnzimmer“, veranschaulicht er die Lage. Viel fehlt nicht mehr dazu. In der Mitte des Flusses befindet sich normalerweise eine Insel. Jetzt zeugen davon nur noch die aus den Fluten herausragenden Baumkronen. Auch die Parkbänke am Ufer stehen unter Wasser.

Wenige Tage zuvor standen Bundeskanzler Olaf Scholz und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil vor der Terrasse von Robert Weierstrass, machten sich ein Bild von der Situation. Besonders der Auftritt des Bundeskanzlers kam jedoch gar nicht gut  an. „Der wollte nur sein Image pflegen, kam in Anzug und ohne Gummistiefel und hat bloß die Leute von der Arbeit abgehalten“, schimpft ein Anwohner. „Wenn er gleich einen Tag nach Beginn des Hochwassers gekommen wäre, dann wäre das in Ordnung gewesen. Aber so nachträglich mal vorbeizuschauen, das ist reine PR“, geht eine andere Anwohnerin mit Scholz hart ins Gericht.

Bundeskanzler Scholz blieb einfach schweigend stehen

Robert Weierstrass hingegen hat da sogar schon etwas Mitleid mit dem Kanzler. „Ich möchte mit ihm nicht tauschen.“ All die Probleme, die Deutschland derzeit habe, die mangelnde Privatsphäre. „Der kann doch nicht mal furzen, ohne daß es einer mitbekommt.“ Bezeichnend: Während Ministerpräsident Weil auf Weierstrass zuging, ihm die Hand schüttelte und Mut zusprach, sei Scholz einfach schweigend stehengeblieben.

Im Gegensatz zur Politik seien die Leute im Ort enorm hilfsbereit gewesen. „Feuerwehr und THW gaben alles, aus der Nachbarschaft wurden sie mit heißer Suppe, Kaffee und Kuchen versorgt“, schwärmt Weierstrass über die Welle der Solidarität unter den Menschen.

„Plötzlich klingelten wildfremde Menschen an unserer Haustür, boten uns unaufgefordert an, mit Wasserpumpen auszuhelfen“, zeigt sich eine weitere Anwohnerin aus der Kleinen Fischerstraße von der Welle der Hilfsbereitschaft in den Tagen der Not angetan. Die Häuser dieser Straße sind von der Flut am meisten betroffen. An einem von ihnen ist bereits eine Wand weggesackt. Die Straße selbst ist abgesperrt, auch Fußgänger dürfen sie nicht passieren.

Vor den Hauseingängen liegen auch hier überall Sandsäcke. Aus Kellerfenstern ragen Schläuche heraus, aus denen abgepumptes Wasser auf die Straße fließt. In einem der Häuser lebt eine über 80 Jahre alte Frau. Sie hatte hier bereits 1946 gelebt, als die Straße schon einmal von der Flut überspült worden war. „Am 28. Dezember morgens um vier Uhr klingelte die Feuerwehr bei mir“, erinnert sie sich an den Tag, an dem die Lage für sie zu kritisch geworden war und sie ihr Haus für einige Tage verlassen mußte. „Ich kam nicht mal an meine Koffer ran, weil der Heizungsraum schon unter Wasser stand.“ 

Vor der Tür zum Heizungsraum stapeln sich Sandsäcke als letztes Bollwerk gegen das Wasser, das bedrohlich hoch an ihrem Küchenfenster vorbeifließt. „Zum Glück habe ich eine Elementarversicherung“, sagt sie und lächelt. Draußen hat sich unterdessen der Regen in leichten Schnee verwandelt. Vielleicht ein Hoffnungsschimmer auf ein Ende der Fluten.