© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/24 / 05. Januar 2024

Geschundenes Paradies
Madagaskar: Der Inselstaat leidet noch heute unter der verhängnisvollen sozialistischen Diktatur, die von 1975 bis 1992 dauerte
Marc Zoellner

Nur das Zirpen der Zikaden war zu hören, wo sonst Motoren dröhnten: Am Anosy-See von Antananarivo stand die Zeit förmlich still. Eigentlich quälen sich hier Stunde für Stunde zahllose Autos, Tuk Tuks und Ochsenkarren über die holprigen Straßen quer durch die pulsierende Millionenmetropole Antananarivo, die „Stadt der tausend Krieger“, wie die Hauptstadt des exotischen Inselstaats Madagaskar vor der Ostküste des afrikanischen Kontinents poetisch genannt wird. Ihre Einwohner haben einen kürzeren Namen gefunden: „Tana“, was schlicht „Stadt“ heißt, dem Regierungssitz Madagaskars. 

Auf zwölf Hügeln erbaut und von engen Gassen und farbenfrohen Häusern geprägt, erinnert Antananarivo mit gewisser Phantasie an den Norden Italiens; in seiner schier grenzenlosen Ausdehnung bis zum fernen Gebirge an Residenzen.

Die Ex-Kolonialmacht Frankreich ist immer noch nicht gern gesehen

Dabei ist Antananarivo mit seinen über drei Millionen Einwohnern keine vierhundert Jahre alt. Der herzförmige Anosy-See stieß erst um 1830 ins Landschaftsbild; errichtet von dem jungen Missionar James cameron – nach dem Ersten Weltkrieg von den Franzosen um ein beeindruckendes Monument zu Ehren der im Krieg gefallenen Madagassen ergänzt. Schon 1960 trennte sich Madagaskar von seiner Kolonialmacht im Unfrieden, bis heute leidet Frankreich unter einem lädiertem Ruf unter den Madagassen. Doch das Mahnmal besitzt noch immer hohen Stellenwert unter Tanas Einwohnern, die sich trotz intensiver Christianisierung tief im Ahnenkult verwurzelt fühlen.

In den Vorwochen des 16. November dieses Jahres schienen die meisten Madagassen ihren Glauben verloren zu haben, zumindest jenen an eine demokratische Zukunft. Um eine Woche hatte der madagassische Präsident Andry Rajoelina bereits die angekündigte Präsidentschaftswahl verschoben. Unruhen prägten die Stadt. Wasserwerfer wurden gegen Demonstrationen der Opposition aufgefahren. Politische Versammlungen waren seit Anfang April verboten. „Der Präsident hatte dafür extra ein Gesetz aus der Zeit der Diktatur von 2009 reaktiviert“, erklärt ein hochrangiger Staatsbediensteter im Gespräch. „Zwar sind Wahlbeobachter aus Südafrika vor Ort, doch der Ausgang der Wahl zugunsten des Präsidenten ist so gut wie gewiß. Entscheidend sind für ihn nur noch sehr hohe Stimmenanteile, um seine Wiederwahl legitimieren zu können.“

Selbstredend galt das Agitationsverbot seitdem auch nur für die Opposition. Von großflächigen Werbetafeln lächelte derweil auf sämtlichen großen Plätzen Rajoelina gütig auf sein Volk herab. Durch die kleinen Dörfer der abgeschiedenen Provinzen kurven Kolonnen von Pickups mit lauter Musik und den Flaggen der Partei des Präsidenten, den „Entschlossenen jungen Madagassen“, um ihre eigene Anhängerschaft zu mobilisieren. 

Für die Opposition hingegen hält Rajoelina das Militär und die Militärpolizei bereit, an deren Loyalität kaum Zweifel besteht. Schon im März 2009, als Rajoelina, damals Bürgermeister Antananarivos, gegen den damaligen demokratisch gewählten Präsidenten Marc Ravalomanana putschte, konnte der Sozialdemokrat auf die Gefolgschaft der Armee zurückgreifen.

Schwer bewaffnete Hundertschaften prägten seit den Wahltagen das Straßenbild Antananarivos – unter den Soldaten überraschend viele Frauen. „Sie verdienen als Soldaten das Dreifache einer Lehrerin“, erzählt ein Straßenverkäufer. „Das macht die Armee für Frauen besonders attraktiv.“ Die abschreckende Wirkung der Armee auf offener Straße war vom Präsidenten gezielt erwünscht, um Proteste gegen das Wahlergebnis im Vorfeld zu ersticken. Für den Ernstfall waren am Rathaus der Stadt gar gepanzerte Fahrzeuge aufgefahren. Für die Abend- und Nachtstunden des 16. November hatte Rajoelina zudem eine Ausgangssperre über die komplette Metropole verhängt. 

Zur Präsidentschaftswahl im November stand die Republik Madagaskar einmal mehr am Scheideweg ihrer noch jungen, von Armut und Umstürzen geprägten Geschichte. Als einem der ersten Völker Afrikas gelang den Madagassen bereits im Juni 1960 der Eintritt in die Unabhängigkeit. Man schrieb das „Afrikanische Jahr“: Frankreich verlor mit einem Schlag gleich vierzehn seiner Kolonien auf dem schwarzen Kontinent, den Großteil davon in Westafrika; Somaliland und Nigeria lösten sich von Großbritannien; der Kongo von Belgien; der Süden Somalias von Italien.

Zwar hielten viele der jungen Staaten noch enge wirtschaftliche Kontakte zu ihren ehemaligen Kolonialherren aufrecht. Madagaskar hingegen glitt, begünstigt durch den Alleinregierungsanspruch der Sozialdemokraten, nur zwölf Jahre nach seiner Unabhängigkeit in eine Militärdiktatur ab – und von dieser in eine verhängnisvolle sozialistische Diktatur, die von 1975 bis 1992 währte. Die wenigen wichtigen Branchen des Landes, Banken und Versicherungen, wurden verstaatlicht, ausländischen Kapitalgebern das Vertrauen entzogen. Der Versuch, die prosperierende Landwirtschaft in eine Planwirtschaft umzuwandeln, führte zu Hungersnöten. Die Ära des Sozialismus wirkt auf Madagaskar bis heute nach und wird von vielen Oppositionellen als Hauptursache der grassierenden Armut des Inselstaats benannt.

„Zwar folgte dem Sozialismus eine kurze Phase der Liberalisierung und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus“, weiß Julia zu berichten. Die aus dem Süden der Insel stammende sechzigjährige Madagassin arbeitet seit fast vier Jahrzehnten als Dolmetscherin. „Doch der Putsch des Sozialdemokraten Rajoelina gegen den Liberalen Ravalomanana zerschlug im Jahr 2009 auch diese Hoffnung. Heutzutage kommen zwar erneut ausländische Investoren nach Madagaskar, doch diese sind meist an einer Monopolstellung interessiert, nicht am Wohl des madagassischen Volks.“ Etwa siebzig Euro beträgt der durchschnittliche Lohn. Wohlgemerkt, im Monat. In manchen ländlichen Regionen stehen noch Naturalwirtschaft und Tauschhandel auf der Tagesordnung. Dabei ist Madagaskar reich an Erzen wie Kobalt, Nickel und Gold – allein von letzterem Edelmetall werden jährlich zwischen zwei und drei Tonnen zuzüglich zahlreicher Edelsteine aus der roten Erde Madagaskars gewonnen.

Doch die Prospektion und Förderung befindet sich fast ausnahmslos in Händen ausländischer Konsortien, die zumeist aus China und Europa stammen. Ebenso fast ausnahmslos wandert in diese Länder der aus dem madagassischen Bergbau geschlagene Profit – sowie, was auf Madagaskar kein Geheimnis ist, in die Taschen hochrangiger Regierungsvertreter. Erst im August dieses Jahres verhaftete die britische Polizei die 46jährige Romy Andrianarisoa in London. Ihr wird vorgeworfen, einem britischen Unternehmen im Tausch für umgerechnet eine Viertelmillion Euro an Bestechungsgeldern eine Konzession für den Abbau von Edelsteinen in Madagaskar angeboten zu haben. Das pikante Detail an der Geschichte: Andrianarisoa ist die Stabschefin Rajoelinas und damit eine der einflußeichsten Politikerinnen ihres Landes. Den politischen Skandal überstand Rajoelina trotz anstehender Wahl unbeschadet.

Madagaskar vergißt seine Toten nicht, heißt das Sprichwort. Seine Lebenden hingegen schon, wie ein Blick in das gesellschaftliche Umfeld des Denkmals bezeugt. Weit über einhundert zumeist arbeitslose Jugendliche umlagern schon tagsüber das Monument und berauschen sich am Khat, einer aus dem Jemen stammenden, von senegalesischen Banden ins Land geschmuggelten Droge. „Das Drogenproblem wird auf Madagaskar immer schlimmer“, beklagt ein Anwohner. „Und die Konsumenten werden mit wachsender Armut immer jünger. Manchmal sind schon kleine Kinder unter den Süchtigen.“

Nosy Be ist ein Präzedenzfall der wirtschaftlichen Fehlentwicklung Madagaskars: Einst reich an blühenden Mango- und Papayaplantagen, entschieden sich die lokalen Bauern vor wenigen Jahren, stattdessen kollektiv Ylang-Ylang-Bäume anzupflanzen, deren ätherische Öle auf dem Weltmarkt teuer gehandelt werden. Die plötzliche Monokultur ließ die Verkaufspreise des Öls auf Nosy Be jedoch binnen nur zwei Jahren ins Bodenlose einbrechen. Viele der Bauern verloren ihr komplettes Einkommen. „Fast alle Plantagen der Insel gehören jetzt Indern und Pakistanern“, erzählt Julia. „Madagassen, die sich keinen Boden zur Pacht leisten können, betreiben nun Brandrohdung im Dschungel.“

Der Drogenkonsum greift unter Jugendlichen um sich

Tatsächlich flammen täglich neue Brände auf dem kleinen Eiland auf, während in den Siedlungen neben dem Drogenkonsum derweil die Prostitution um sich greift. Die wohlhabenden Freier aus dem Westen sind dabei immer öfter weiblich und betagt. Auch hier verschließt die Regierung Tanas ihre Augen und fokussiert sich stattdessen auf den Verkauf lukrativer Konzessionen ins Ausland. Auf Nosy Be hat derzeit der Straßenbau Hochkonjunktur. Die zahlreichen Bagger, Kipplaster und Dampfwalzen, die eifrig Schlammpfade in befahrbare Straßen wandeln, stammen dabei – wie auch die Konstruktionsfirmen – ausnahmslos aus China.

„Im Jahr 2017 ankerte hier sogar ein chinesisches Schiff und kaufte sämtliche streunenden Hunde der Insel auf“, weiß René zu berichten. „Als wir später gelesen hatten, was der Grund dafür sei, war das für uns alle ein großer Schock.“ Der Mittfünfziger, der sein Geld als Taxifahrer verdient, unterhält seitdem eine Unterkunft für herrenlose Hunde, in welcher bereits 28 Vierbeiner herumtollen, wie er stolz erzählt. „Die werden nie wieder verkauft.“ Zur Präsidentschaftswahl habe er jedoch auch nicht abgestimmt, so wie viele seiner Landsleute. Bereits offiziell lag die Wahlbeteiligung bei nur 46 Prozent. Ausländische Beobachter sprechen sogar von weit unter 30 Prozent an Wählern.

Neben der politischen Resignation vieler Madagassen lag eine der Ursachen für den Wahlflop auch im Aufruf zum Boykott, den gleich zehn der dreizehn Präsidentschaftskandidaten unterzeichnet hatten. Ihre Begründung, die autoritäre Regierungsführung des Präsidenten würde eine faire Wahl verunmöglichen, war angesichts der bewaffneten Soldaten auf den Straßen Antananarivios nicht nachvollziehbar. Daß Rajoelina trotz seiner vielfältigen Eingriffe in die Wahl nur auf 59 Prozent aller Stimmen kam, glich da schon fast einem kleinen Wunder. Daß dem Wunschkandidaten vieler Madagassen, dem liberalen einstigen Präsidenten Marc Ravalomanana, vom Wahlausschuß lediglich zwölf Prozent Stimmanteil zugesprochen wurden, ist hingegen ein bitteres Signal für die politische Zukunft eines der ärmsten Staaten dieser Erde.