© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/23 / 15. Dezember 2023

Warum für Kiew nur noch ein Pyrrhussieg in Aussicht steht
Die ukrainische Tragödie
Bruno Bandulet

Kriege, auch die falschen und tragischen, sind oft große Katalysatoren. Auch der Krieg in der Ukraine, der sich seinem Endspiel zu nähern scheint, ist ein solcher. Er war falsch, weil er hätte vermieden werden können. Er ist tragisch, weil er nur Verlierer hinterläßt, wenn auch in sehr unterschiedlicher Hinsicht. Und er wurde bereits im ersten Kriegsjahr zum Katalysator, weil er die politische Landschaft in Europa umpflügte, weil er neue Feindschaften begründete und weil er insbesondere in Deutschland bewirkte, was Olaf Scholz mit dem schillernden Begriff der Zeitenwende zu etikettieren versuchte. Die geopolitische Debatte in Deutschland hätte oberflächlicher nicht sein können. Sie ist es bis heute. Vergessen und verdrängt wurde, was Carl von Clausewitz vor fast 200 Jahren schrieb: Krieg sei „ein Konflikt großer Interessen, der sich blutig löst“. Die Politik, erklärte er, „ist der Schoß, in dem sich der Krieg entwickelt“. 

Eine diskussionswürdige Version sieht im 4. April 2008 „den Tag, an dem der Krieg begann“. An jenem Tag beschloß der Nato-Gipfel in Bukarest gegen deutschen und französischen Widerstand die Aufnahme der Ukraine und Georgiens im Grundsatz. Es war William Burns, US-Botschafter in Moskau, der warnte, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sei die „breiteste aller roten Linien“ für die gesamte russische Elite. Putin habe in dieser Frage keinen Spielraum. Und George F. Kennan sah schon 1997 „verhängnisvolle Konsequenzen“ voraus, als amerikanisch-ukrainische Militärmanöver abgehalten wurden.

Intensiviert wurde die militärische Kooperation nach dem Regimewechsel in Kiew 2014 und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Rußland. Die Ausbildung nach Nato-Standard, die Waffenhilfe und die hohe Moral der ukrainischen Truppen, die nach 2014 von prorussischen Offizieren gesäubert wurden, waren die Erklärung dafür, daß die als Blitzkrieg konzipierte russische Invasion vom 24. Februar 2022 steckenblieb. Weil die Russen nicht auf die Besetzung der Ukraine, sondern auf einen schnellen Regimewechsel in Kiew abzielten, marschierten sie mit unzureichenden Kräften ein. Wieder einmal erwies sich, daß – so schon Clausewitz – Verteidigung leichter ist als Angriff.

Die westlichen Meinungsführer malten sich ein Rußland, das sie nicht verstanden. Die Zeitungen erfanden die Figur eines irrationalen Putin, der bald auch gegen Westeuropa marschieren werde. Womit und wozu, fragte niemand. In Wahrheit gab es vor dem vom Westen unterstützten und finanzierten Umsturz in Kiew im Jahr 2014 keinerlei Hinweise auf russische Kriegspläne. Zugleich war die russische Position zum Status der Ukraine von Anfang an klar und berechenbar – von Irrationalität keine Spur. Das Vorrücken der Nato nach Polen und in das Baltikum wurde in Moskau als Vertrauensbruch gesehen, aber hingenommen. Der Anschluß der Ukraine an das Militärbündnis aber, ob de facto oder de jure, und damit der Verlust von Sewastopol waren aus russischer Sicht nicht hinnehmbar. Das wußte auch ein Henry Kissinger. Nach dem Anschluß der Krim riet er Kiew dazu, die Ukraine zum neutralen Staat zu erklären. Nach der Invasion 2022 plädierte er für eine Verhandlungslösung. Er fand kein Gehör. Auch über die zwei Vertragsentwürfe, die der Kreml im Dezember 2021 vorlegte, wollte Wa-shington nicht verhandeln. 

Daß der gordische Knoten nicht durchschlagen werden konnte, liegt auch an der Komplexität des Konflikts. Als die Regierung in Kiew 2014 die Verwendung der russischen Sprache in der Öffentlichkeit verbot und die überwiegend russischsprachige Bevölkerung im Donbass rebellierte, handelte es sich um einen beginnenden Bürgerkrieg. Von einem Bruderkrieg kann gesprochen werden, weil Großrussen und Kleinrussen, wie sie früher genannt wurden, auf eine lange gemeinsame Geschichte zurückblicken – für den Haß und die Brutalität, die solche Kriege kennzeichnen, ist der amerikanische Bürgerkrieg das beste Beispiel. Auch der aktuelle Stellvertreterkrieg hat einen schemenhaften Vorgänger: die Ukrainische Volksrepublik, die im Februar 1918 vom Deutschen Kaiserreich als unabhängiger Staat anerkannt und mit der Stationierung deutscher Truppen gestützt wurde. Flagge, Nationalhymne und sogar die Währung hat die Ukraine von dieser kurzlebigen Volksrepublik übernommen.

Daß das unglückliche Land ein zweites Mal seine Selbständigkeit verliert, kann ausgeschlossen werden. Die Bolschewisten gewannen 1921 den Krieg, die Regierung Putin wird sich auf eine Eroberung des ganzen Landes nicht einlassen und keinen endlosen Kleinkrieg riskieren. Auch der Kreml kennt die Wahlergebnisse von 2010. Im Westen, Norden und in der Mitte des Landes siegte der prowestliche Kandidat, im Osten und Süden der prorussische. Daß die Krim und der Donbass befreit werden wollen, wie westliche Medien unterstellen, ist nicht glaubhaft. Daß Putin an Landesteilen interessiert sein könnte, wo er nicht willkommen ist, ebensowenig.

Nach bald zwei Jahren Krieg kann festgestellt werden, daß sich alle Seiten auf ihre jeweils eigene Weise verkalkuliert haben: Wladimir Putin mit der Annahme, seine „spezielle Militäroperation“ werde ausreichen, um Präsident Selenskyj zu stürzen – stattdessen sah er sich mit einem verlustreichen Krieg und dem mutigen Widerstand des ukrainischen Nationalismus konfrontiert. Der westliche Block wiederum unterlag dem Irrglauben, Rußland international isolieren und mittels Sanktionen in die Knie zwingen zu können – in Wirklichkeit zog der globale Süden nicht mit, die russischen Rüstungskonzerne produzieren rund um die Uhr. Naiv war auch die Spekulation auf einen Umsturz im Kreml – Olaf Scholz und Joe Biden können die Zustimmungswerte Putins nur neidisch zur Kenntnis nehmen. 

Und die Ukraine? Auf die militärischen Erfolge des ersten Kriegsjahres folgte ein zermürbender Stellungskrieg. Die vom Westen munitionierte Gegenoffensive vergangenen Sommer scheiterte. Von einem Vorstoß zum Asowschen Meer, der die russische Landbrücke zur Krim durchtrennt, spricht niemand mehr. Die zu Recht bewunderte Kampfkraft der ukrainischen Truppen ist erschöpft. Mit möglicherweise 100.000 Gefallenen und Verwundeten auf jeder Seite – belastbare Zahlen fehlen – sind die Verluste horrend. Die 1.200 Kilometer lange Front ist, von kleineren Vorstößen abgesehen, eingefroren. 

Leitmedien hierzulande schenkten Selenskyj Glauben, als er 2023 verkündete, die ukrainische Gegenoffensive werde den „definitiven Sieg“ bringen. Warum der Optimismus verfehlt war, läßt sich unschwer nachvollziehen. Laut „World Factbook“ der CIA belief sich das reale Bruttoinlandsprodukt Rußlands 2022 auf 4,07 Billionen Dollar, das der Ukraine auf 379 Milliarden Dollar. Pro Kopf entsprach letzteres einem Drittel der russischen Wirtschaftsleistung, womit die Ukraine noch schlechter als das bitterarme Moldawien abschnitt. Inzwischen ist Kiew vollständig von westlicher Finanz- und Militärhilfe abhängig. Würde sie morgen eingestellt, müßte Selenskyj kapitulieren. Ad infinitum wird sie nicht fließen.

Hinzu kommt, daß von den 42,8 Millionen Einwohnern der Ukraine allenfalls 30 Millionen übriggeblieben sind. Millionen sind in den Westen oder nach Rußland geflohen, ein weiterer Teil lebt in den von Rußland kontrollierten Gebieten. Als die russischen Truppen im Februar 2022 angriffen, stürmten Freiweillige die ukrainischen Wehrersatzämter. In diesem Herbst wurden Männer aus Zügen und Bussen gezerrt und an die Front geschickt. Andere entgehen dem Dienst an der Waffe mittels Bestechung. Die Korruption hatte schon im Sommer derartige Ausmaße angenommen, daß Selenskyj am 11. August die Chefs sämtlicher Wehrersatzämter feuerte. Das amerikanische Time-Magazin berichtete im November, daß Frontkommandeure selbst Angriffsbefehle, die direkt aus Selenskyjs Kanzlei kommen, verweigern und einfach in den Gräben sitzen bleiben. Während die Autorität des Präsidenten in Kiew zunehmend in Frage gestellt wird, sprechen sich nur noch 41 Prozent der Amerikaner dafür aus, der Ukraine mehr Waffen zu liefern. „Niemand glaubt noch an unseren Sieg wie ich. Niemand“, gestand ein einsamer Selenskyj dem Time-Magazin.

Ein „Höllenjahr“ sagt die Neue Zürcher Zeitung der Ukraine 2024 voraus. Kiew könne den Krieg verlieren. „Der Glaube, Moskau würden Soldaten und Waffen ausgehen, erwies sich als Wunschdenken.“ Daß der Konflikt eine überraschende Wendung nehmen könnte, zeichnete sich Anfang November ab, als der britische Economist ein Interview mit dem Generalstabschef der ukrainischen Armee, Walerij Saluschnyj, veröffentlichte. Es werde höchstwahrscheinlich „keinen tiefen und schönen Durchbruch“ seiner Streitkräfte geben. Ohne einen technologischen Sprung, vergleichbar mit der Erfindung des Schießpulvers,  „werden wir früher oder später feststellen, daß wir einfach nicht genug Leute haben, mit denen wir kämpfen können“. 

Anfang Dezember sickerte schließlich aus amerikanischer Quelle durch, daß Saluschnyj Kontakt mit seinem Gegenspieler, dem russischen Oberbefehlshaber Walerij Gerassimow, aufgenommen hat – ohne Genehmigung Selenskyjs und der US-Regierung. Beide Seiten sprechen demnach schon darüber, wie ein Waffenstillstand und ein Friedensabkommen aussehen könnten. Rußland würde die Krim und die besetzten Gebiete behalten. Im Gegenzug würde Moskau seine Truppen an den Grenzen zum Baltikum und zu Moldawien zurückziehen und dem Nato-Beitritt der Ukraine zustimmen. Letzteres unter der Bedingung, daß auf ukrainischem Territorium keine Truppen oder Waffen des Bündnisses stationiert werden. Ein solcher Deal mit all seinen Details würde Monate in Anspruch nehmen. Daß er zustande kommt, ist ungewiß. Er wäre bitter für die Ukrainer, die immense Opfer gebracht haben. Selenskyj würde politisch nicht überleben. Der in der Ukraine hoch angesehene Oberbefehlshaber Saluschnyj wird in Kiew bereits als Nachfolger gehandelt.

„Selten ist in Europa überall Friede“, sagte Clausewitz, „und nie geht der Krieg in den anderen Weltteilen aus.“ Vielleicht kann der erste Teilsatz als zu pessimistisch widerlegt werden, der zweite wohl kaum. Sobald die Ukraine als „Bollwerk gegen Rußland“ stabilisiert sei, verkündete der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen 2021, „würden Ressourcen frei, um sich dem eigentlichen geopolitischen Problem zuzuwenden – China“.






Dr. Bruno Bandulet, Jahrgang 1942, promoviert in Würzburg über Adenauers Außenpolitik, war Chef vom Dienst der Tageszeitung Die Welt und ist Herausgeber des „Deutschland-Briefs“, der im libertären Magazin eigentümlich frei erscheint.