© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/23 / 01. Dezember 2023

Der Notstand wird zur Regel
Unsolide Finanzpolitik: Die offizielle Begründung einer außergewöhnlichen Situation steht auf tönernen Füßen
Dirk Meyer

Zum vierten Mal in Folge – die Erklärung einer finanzpolitischen Notlage wird zur Regel. Für die einen ein Zeichen „multipler Krisen“ in einer sich verändernden Welt, für die anderen Ergebnis einer auf Naht genähten Haushaltspolitik, bei der nicht einmal der Faden reicht. Durch das Verbot des Bundesverfassungsgerichts, Kreditermächtigungen in Folgejahren ohne Anrechnung auf die Schuldenregel zu verschieben (BVerfG/2 BvF 1/22; JF 48/23), fehlen für den Bundeshaushalt 2023 bis zu 45 Milliarden Euro. So wurden bis Ende Oktober aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds 14,3 Milliarden Euro für die Gas- und Fernwärmepreisbremse sowie 15,2 Milliarden Euro für die Strompreisbremse finanziert. Etwa sieben Milliarden Euro kommen für Hilfen an Krankenhäuser hinzu. Nebenbei: Die verschiedenen Sonderfonds in fünf Bundesländern stellen dortige Regierungen vor ähnliche Probleme.

Strukturelle Herausforderungen erlauben keine Schuldenausnahme 

Doch scheint es leichter, ein Aussetzen der Schuldenregel mit Ampelmehrheit zu beschließen, als die verfassungsgemäße Begründung zu liefern. Denn es ist ein Unterschied, ob man unverschuldet in Seenot gerät oder seeuntüchtig in See sticht. Die Schuldenregel, nach der der Bund eine Neuverschuldung von bis zu 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufnehmen darf, kann durch „außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“ (Art. 109 Grundgesetz) außer Kraft gesetzt werden. Aber noch am 5. Juli erklärte Finanzminister Christian Lindner: „Wir sind jetzt konfrontiert mit strukturellen Herausforderungen, aber nicht mehr in einer außergewöhnlichen Notsituation, die eine Ausnahme von der Schuldenregel des Grundgesetzes zulassen würde.“

Zum einen haben sich die Strom- und Gaspreise im Laufe des Jahres normalisiert. Zum anderen wäre zu hinterfragen, ob sich die Störungen auf den Energiemärkten tatsächlich der Kontrolle des Staates entzogen haben. Nicht der russische Angriffskrieg, sondern die Reaktionen haben zur Energiekrise geführt. Der Stopp der Nord-Stream-2-Inbetriebnahme zwei Tage vor Kriegsbeginn durch das Wirtschaftsministerium, das Einfuhrverbot für russisches Tanker-Öl, die weltweite Ölpreis­obergrenze von 60 Dollar pro Barrel für russisches Öl und die Entscheidung der Bundesregierung, zusätzlich auch auf russisches Pipeline-Öl zu verzichten – mit massiven Auswirkungen auf die brandenburgische Großraffinerie Schwedt – haben die deutsche Industrie, Verbraucher und Steuerzahler massiv geschädigt. Die staatlichen Hilfen sind mithin Folge politisch auch in der Wirkung fragwürdiger Entscheidungen.

Ebenso vermögen die ambitionierten Klimaziele eine Notlage nicht zu rechtfertigen. Die Dekarbonisierung ist bekannt, und auch hier wurden Mittel bei geringer umweltpolitischer Wirksamkeit und Effizienz verschwendet. Der hohe volkswirtschaftliche Schaden wird teils erst zukünftig durch Schließungen und Abwanderungen von Industrien sichtbar werden (De-Industrialisierung). Etwaige Energiepreissubventionen führten zudem zu Mehrverbräuchen und sind Ausdruck einer verfehlten Klimapolitik. Damit setzt sich die Regierung einer erneuten Klage im Wege der abstrakten Normenkontrolle aus (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Prinzipiell antragsberechtigt wären Bundesregierung, jede Landesregierung und ein Viertel der Bundestagsabgeordneten. Nur die Unionsfraktion hat faktisch aus eigener Kraft das Antragsrecht. Doch die dürfte sich hüten, diesen Schritt zu gehen, denn bei Regierungsübernahme würde sie vor gleichen Problemen stehen – gegebenenfalls ein nicht sanktionierter, weiterer Verfassungsverstoß. Mangels „persönlicher Betroffenheit“ können Bürger gegen Haushaltsgesetze keine Verfassungsbeschwerde erheben.

Versuchen, mit den laufenden Steuereinnahmen auszukommen

Da ist es schon begrüßenswert, daß nicht – ähnlich dem Sondervermögen Bundeswehr (Art. 87a Abs. 2 GG) – ein zweites Sondervermögen Klima- und Transformationsfonds (KTF) in das Grundgesetz eingefügt wird. Denn damit wären die Kredite von der Schuldenbremse vollständig ausgenommen. Hierzu wäre eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages und des Bundesrates erforderlich, was derzeit undenkbar erscheint. Zudem wäre diese Einfügung ein (weiterer) politischer Verstoß, der einer Verfassungsdurchbrechung ähnlich den (Ausnahme-)Gesetzen der Weimarer Republik außerhalb der Verfassung gleichkommen würde. Mit der Feststellung der Notlage werden die „Notkredite“ immerhin auf einem Kontrollkonto (Art. 115 Abs. 2 GG) erfaßt und müssen zurückgeführt werden.

Verschuldungsregeln sind eine Selbstbindung für Regierung und Parlament zugunsten zukünftiger Generationen vor dem Hintergrund des Dilemmas, „schwach zu sein und davon zu wissen“. Mit dem Rückführungsgebot von Notlagenkrediten wird der politische Ausgaben- und Gestaltungsspielraum in weiteren Jahren eingeschränkt. Um dies zu vermeiden, wird die Aufnahme der „Goldenen Regel“ für Investitionskredite nicht nur von Grünen und SPD gefordert. Im Umfang von Investitionen würden Kredite nicht auf die Schuldenbremse angerechnet. Das Argument: Investitionen in die Infrastruktur, den Klimaschutz und in die Verteidigung würden „Zukunftsgüter“ darstellen. Doch wurde das Infrastrukturkapital in der Vergangenheit sehenden Auges herabgewirtschaftet, ebenso wie Klimaschäden aus der Vergangenheit stammen.

Deshalb sollten Reparaturen und Erhaltungsinvestitionen aus den laufenden Steuereinnahmen bestritten werden – auf Kosten des privaten Konsums. Die „Goldene Regel“ in der vor 2009 geltenden Fassung hat von 1975 bis 2009 einen Anstieg der Staatsschuldenquote von zirka 20 auf 80 Prozent zugelassen. Eine Wiedereinführung deutet deshalb auf den politischen Willen zur Schaffung erheblicher neuer Schuldenspielräume hin. Doch spätestens hier hört der Konsens der Ampelparteien auf. Allerdings muß die Regierung noch mindestens bis zum 8. Dezember durchhalten. Denn erst dann entsteht für die Mitglieder ein Anspruch auf ein Ruhegehalt von 4.660 Euro monatlich (Paragraph 15 Bundesministergesetz). Dieser Minimalkonsens scheint wahrscheinlich.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.