© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/23 / 01. Dezember 2023

Der Kinderraub der Genossen
DDR-Unrecht: Die Opfer von Zwangsadoptionen des früheren SED-Regimes fordern eine Aufarbeitung ihres Schicksals
Jörg Kürschner

Wir schreiben das Jahr 1975. Auf dem Titelblatt des Nachrichtenmagazins Spiegel sieht man das Gesicht eines verängstigt blickenden Jungen und die Schlagzeile „Kinderraub der DDR?“ Kurz darauf wird Spiegel-Korrespondent Jörg Mettke wegen „Verleumdung der DDR“ aus Ostberlin ausgewiesen. Erstmals war öffentlich geworden, daß die DDR-Behörden Kinder von Eltern, die bei der Flucht in den Westen ertappt wurden, zur Adoption freigaben.

Bald ein halbes Jahrhundert später und 34 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR ist das Thema Zwangsadoptionen weiterhin eine politische Leerstelle, fühlen sich die Betroffenen von der Politik des wiedervereinigten Deutschlands allein gelassen in ihrem Bemühen um Aufklärung und Anerkennung als Opfer des SED-Staates.

Andreas Laake steht die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, als er in einem Anhörungssaal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages sein persönliches Schicksal und seine jahrelangen Auseinandersetzungen mit den Behörden schildert. Rund 200 Betroffene waren der Einladung der AfD-Bundestagsfraktion gefolgt, die mit der Fachveranstaltung „Gerechtigkeit für die gestohlenen Kinder der DDR“ dem Randthema Zwangsadoptionen mehr Aufmerksamkeit verschaffen will.

Die Voraussetzungen dafür sind schwierig, denn den Betroffenen fehlt eine Lobby. Zudem mangelt es an einer gesicherten Forschung, die allenfalls in Ansätzen erkennbar ist. 1989, unmittelbar nach dem Mauerfall, war das anders. Bundestagsabgeordnete stellten parlamentarische Anfragen, Wissenschaftler initiierten Forschungsvorhaben, Journalisten recherchierten spektakuläre Fälle. 

Schätzungen gehen  von 72.000 Fällen aus

Doch das Interesse an den Zwangsadoptionen ist längst erlahmt. Unterschiedliche Angaben über die Zahl der Inkognito-Adoptionen, unterschiedliche Berichte über eine politische Motivation der Kindeswegnahmen, unterschiedliche Entscheidungen der Behörden und Gerichte haben zu einer „klaffenden Aufarbeitungslücke“ geführt, wie eine Anhörung des Petitionsausschusses des Bundestages feststellte. Das war im Frühjahr 2018.

Seitdem war die Politik nicht untätig, hat rechtliche Hindernisse beseitigt, um den Forderungen der Betroffenen etwa nach Akteneinsicht und moralischer Entschädigung zu entsprechen. So wurden nach langem Drängen das Adoptionsvermittlungsgesetz sowie das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz geändert; im Sinne der Betroffenen. Denn bis vor zwei Jahren war es leiblichen Eltern nahezu unmöglich, mit Hilfe der Behörden Kontakt zu ihren „gestohlenen Kindern“ aufzunehmen. 

Damit hat sich Andreas Laake nicht abfinden wollen. 29 Jahre hat er nach seinem 1984 geborenem Sohn Marko gesucht, der nach der gescheiterten Flucht des Vaters in den Westen geboren worden war. In seiner über vierjährigen Haftzeit im Zuchthaus Brandenburg-Görden wird dem jungen Mann das Sorgerecht für seinen Sohn entzogen, der bei seinen vom Jugendamt bestellten „Adoptiveltern“ aufwächst. Bei seiner Haftentlassung 1988 überrascht Andreas’ Mutter ihren Sohn mit einem Foto ihres Enkels aus Kindertagen.

Jetzt beginnt für den 28jährigen Mann aus Leipzig eine Odyssee durch Jugendämter, Kindergärten und Säuglingsheime. Auch nach der Wiedervereinigung stößt er bei den Behörden auf taube Ohren, gibt aber nicht auf. Den Durchbruch brachte erst eine Fernsehsendung, in der über den Fall berichtet wurde. Am Abend des 7. Oktober 2013, dem Gründungstag der DDR, klingelt bei Vater Laake das Telefon. Es war wohl eine Eingebung, als er unsicher fragte „Mein Marko?“ „Dein Marko“, antwortete der verlorene Sohn, den der Vater noch nie gesehen hatte. Langes Schweigen. Rasch verabredeten Vater und Sohn ein Treffen, als erstes wurde klargestellt, daß Vater Andreas seinen Sohn nicht weggegeben hatte. „Heute sind wir gute Freunde, mehr nicht“, erzählt Laake. 

Verbitterung, Enttäuschung? „Wenn man nach so langer Zeit sein Kind findet, ist das mehr als erhofft“, sagt er und scheint mit sich im reinen. Daß er seinerzeit brutal auf offener Straße attackiert worden ist, umziehen und in ein Schutzprogramm wechseln mußte, gehört auch zu seinem Lebenslauf. Die Rippenbrüche spürt er noch heute, die Drohung des später verurteilten Täters, er werde ihn totschlagen, falls er seine Suche nicht einstelle, vergißt er nicht. 

Unzufrieden ist der 63jährige mit der Aufarbeitung der Zwangsadoptionen. Noch immer besteht Unklarheit über deren Zahl. Seriöse Schätzungen gehen von 72.000 Fällen aus, doch können es auch deutlich mehr sein. Davon soll es etwa 10.000 politisch motivierte Kindeswegnahmen gegeben haben. Da wurde den leiblichen Eltern erzählt, ihr Kind sei bei der Geburt oder durch Krankheit gestorben.

Anfang 2017 hatte die Bundesregierung eine Vorstudie zu „Dimensionen und wissenschaftlicher Nachprüfbarkeit politischer Motivation in DDR-Adoptionsverfahren 1966–1990“ in Auftrag gegeben. Das Ergebnis war niederschmetternd und nichtssagend, wie selbst die damalige Ost-Beauftragte der Regierung, Iris Gleicke (SPD), einräumen mußte: „Die Vorstudie kommt zu dem Ergebnis, daß das Phänomen politisch motivierter Adoptionen in der DDR zwar lange bekannt, aber bislang nur punktuell erforscht ist“. Ein Fehlschlag, wie auch Laake kritisiert, der sich als ehrenamtlicher Vorsitzender der „Interessengemeinschaft der gestohlenen Kinder der DDR“ (IGGKDDR) um die Aufklärung weiterer Adoptionsfälle kümmert. Es gehe nicht um finanzielle, sondern um eine moralische Entschädigung.  

„Man scheint darauf zu setzen, daß die Betroffenen verstummen“

 „Wir brauchen jetzt Lösungen“, mahnt Laake eindringlich unter großem Beifall seiner Zuhörer. Viele Betroffene seien im fortgeschrittenen Alter und krank. Von der Hauptstudie, die erst 2025 abgeschlossen wird, erwartet er nichts. Es würden viel zu wenige Akten ausgewertet, um repräsentative Ergebnisse zu erhalten. Die 2020 eingerichtete „Clearingstelle“ müsse mit Sonderermittlungsrechten ausgestattet werden, etwa Adoptionsunterlagen einsehen und auch beschlagnahmen dürfen.

Der Bundestagsabgeordnete Götz Frömming (AfD), der die Tagung mit Fraktionskollegen organisiert hat, zeigt Verständnis für die Ungeduld der Betroffenen. „Ich befürchte daher, daß auch nach dem Erscheinen der derzeit laufenden Forschungsstudie sich wenig ändern wird. Man scheint darauf zu setzen, daß die Betroffenen verstummen und sich das Problem von selbst löst“, vermutet er gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Auf sein Unverständnis stößt die geltende Rechtslage, der zufolge sich staatliche Nachforschungen, etwa von Jugendämtern, zuerst an die „Adoptiveltern“ richten – allzu oft stramme SED-Kader – und nicht an das „fremd plazierte Kind“ richten. So sei Mißbrauch programmiert. Man werde das Thema im Bundestag weiter auf die Tagesordnung setzen, verspricht er.

Das Mißtrauen der Betroffenen gegenüber der Politik ist groß, die Erwartungen sind niedrig, das ist deutlich zu spüren. Verständlich, hält es doch das Bundesinnenministerium in seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage Frömmings tatsächlich für „klärungsbedürftig, ob … es politisch motivierte Zwangsadoptionen in der DDR gab“.

Ein Blick in den Spiegel von 1975 dagegen verschafft die angezweifelte Klarheit. Seinerzeit widersprach der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, ein Vertrauter von Staats- und Parteichef Erich Honecker, in einem Telefonat mit der Deutschen Presse-Agentur der offiziellen Darstellung. Er bestätigte die bekanntgewordenen Zwangsadoptionen mit dem Hinweis, diese seien aber für die ostdeutsche Rechtspraxis „nicht repräsentativ“. Verantwortlich für die Jugendämter und damit für die Zwangsadoptionen war Volksbildungsministerin Margot Honecker, die Ehefrau des Staatschefs.