© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Grüße aus … Santiago de Chile
Abgetakelter Charme
Stefan Michels

Chile, das ist vor allem seine Hauptstadt Santiago. Über ein Drittel der Landesbewohner lebt im Großraum der Kapitale und damit mehr als in den meisten Flächenländern der Erde. Offensiv betreibt die Stadt Werbung mit ihrer besonderen Lage: In zwei Stunden kann man wahlweise am pazifischen Strand oder in den Skigebieten der Anden sein. Anders als Peru und Bolivien gehört Chile zur Ersten Welt, wenn auch in puncto Kost und Logis eher bei der Preisgestaltung als beim Wert der erbrachten Gegenleistung. 

Zum ersten Mal auf meiner Tour werde ich auf der Straße für einen Einheimischen gehalten. 15 bis 20 Prozent der Einwohner, so schätze ich, sind Weiße, der überwältigende Rest Mestizen, die sich äußerlich von den weit weniger vermischten Indios unterscheiden, die in den beiden anderen Ländern das Straßenbild dominieren. Das schachbrettartig angelegte Zentrum wird geprägt durch eine ausgedehnte Fußgängerzone, die von grauen Hochhäusern mittelprächtiger Bauqualität und stattlichen Repräsentationsbauten im klassisch-europäischen Baustil gesäumt wird. 

Unten am Wasser warnen Hinweisschilder die Touristen vor einer „Tsunami-Gefahr“

Meine heimliche Hoffnung, ein lohnendes Auswanderungsziel vorzufinden, erhält schnell einen Dämpfer: Am Rathaus hängt eine Globohomo-Flagge,  als hätte man am Ende der Welt einen Grund entdeckt, auf eine Ideologie der Weißen- und Männerfeindlichkeit stolz zu sein, und am Hauptbahnhof lungern schwarzafrikanische Neuankömmlinge herum, die so abgelöst von der Umgebung wie in Deutschland wirken – Warnzeichen, daß man in Chile entschlossen scheint, die Fehler der Europäer zu wiederholen.

Der abgetakelte Charme von Valparaíso, der Hafenstadt Santiagos, hebt wieder meine Stimmung. Die kleine Altstadt auf einem Felssporn über dem Pazifik entpuppt sich als eine Art Künstlerkolonie. Während in schnuckeligen Läden originelle Souvenirs feilgeboten werden, genießt man auf den Terrassen der Cafés den Ausblick über die wolkenbedeckte Bucht. Unten am Wasser finden sich Warnschilder einer „Tsunami-Gefahrenzone“. Eine Warnung und Erinnerung an das Erdbeben vom 27. Februar  2010, das einen Tsunami auslöste.

Mein Ausflug in den Cajón del Maipo ist sprichwörtlich ein Schlag ins Wasser. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln arbeite ich mich von Santiago das Andental hoch, bis die Straße gesperrt ist. Unterwegs mache ich Halt an einem leeren Café, das wie viele andere im Tal „Kuchen“ anbietet. Auf dem Rückweg gerät mein Taxi unvermittelt in einen Stau. 

Der Fahrer hält mir lachend die Zeitung vor die Nase. Vor uns hält gerade der linke Präsident Chiles, der 37jährige Gabriel Boric, eine Rede zur Unwetterlage, mit Bauhelm unter freiem Himmel.