© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/23 / 10. November 2023

Was passiert, wenn die Ampel ausfällt?
Rechts vor links
Konrad Adam

Die Aussicht auf vorgezogene Neuwahlen wächst. Sie stimmt die meisten von uns glücklich, nur den Regierenden macht sie angst und bange; und beide haben Grund dazu. Obwohl sie um jeden Preis im Amt bleiben will, nährt die Ampelkoalition mit jedem neuen Tag den alten Wunsch, ihr heimzuleuchten. Wie viele Machtworte hat der Kanzler schon gesprochen, wie viele will er noch sprechen, und was haben sie bewirkt? Nach jeder Krisensitzung, jeder Koalitionsrunde, jeder Kabinettsklausur steht die Regierung jämmerlicher da. Sie predigt Geschlossenheit, übt sie aber nicht, kann sie auch gar nicht üben, weil jede der drei Parteien den Fortschritt in eine andere Richtung sucht.

Die Zeit für einen Scheidebrief, wie ihn vor Jahr und Tag Graf Lambsdorff geschrieben hatte, wäre da. Aber einen Lambsdorff gibt es nicht mehr, eine FDP, die weiß, was sie will, auch nicht. Dreizehn Jahre brauchte die sozialliberale Koalition, bis sie im Herbst des Jahres 1982 am Ende war; die Ampel schaffte das in zwei. Da sie aus drei Parteien besteht, fällt ihr die Trennung schwer: jede von den dreien zögert, den ersten Stein zu werfen, weil sie weiß, daß dann gleich zwei zurückfliegen. Was diese Ménage-à-trois zusammenhält, ist die Gewißheit, beim nächsten Mal noch schlechter abzuschneiden als bei den jüngsten Landtagswahlen in Hessen und Bayern. Verloren haben alle drei, am meisten allerdings die SPD, die man nur noch mit Vorbehalt als Volkspartei bezeichnen kann.

Das wäre die Stunde der Opposition, der Regierung von morgen, wie man sie in England nennt. In Deutschland besteht aber auch die Opposition aus drei Parteien, die einander noch gründlicher mißtrauen als die Regierungskoalition. Die CDU wird nicht müde, eine Zusammenarbeit mit der AfD auszuschließen; über die Linkspartei braucht sie kein Wort mehr zu verlieren, für die gilt ohnehin das gleiche. Deswegen kokettiert die CDU mit Gesprächs- und Bündnisangeboten an die SPD. Sie wäre aber doch von allen guten Geistern verlassen, wollte sie sich im Ernst auf eine Koalition mit einer Partei einlassen, die ständig schrumpft, in Bayern schon in Richtung fünf Prozent. Die FDP hat diese Schrumpfkur bereits hinter sich; sie ist im Landtag gar nicht mehr vertreten. Bleiben die Grünen, mit denen die CDU in etlichen Bundesländern gemeinsam die Regierung stellt. Sie sind ein schwieriger Partner, weil sie die Angewohnheit haben, sinnvolle Vorhaben dadurch zu diskreditieren, daß sie die falschen Leute für sie werben lassen. Um die Familie zu stärken, schicken sie Lisa Paus auf die Bühne, fürs Völkerrecht Frau Baerbock, für die Kultur Claudia Roth und für den „Veggie Day“ Ricarda Lang. Nach den Peinlichkeiten einer feministischen Außenpolitik haben wir es nun auch noch mit den Auswüchsen einer feministischen Familien-, mit den Albernheiten einer feministischen Kultur- und mit den Zumutungen einer feministischen Ernährungspolitik zu tun bekommen. Die Grünen haben nicht verstanden, daß auch die schönsten Ideen nur so lange attraktiv aussehen, wie sie von attraktiven Leuten vorgetragen werden. Wenn es an denen fehlt, fehlt es an allem. Sie haben ja recht, hatte Niklas Luhmann über die Grünen gespottet, man kann ihnen nur nicht zuhören. Zusehen inzwischen auch nicht mehr.

Bleibt die AfD. Vor Jahren hatte Friedrich Merz sich zugetraut, jeden zweiten Wähler dieser Partei zur CDU zurückzuholen – damals kein unrealistisches Versprechen, da die AfD einen Gutteil ihres Zulaufs der Enttäuschung über Angela Merkels erratische Politik zu verdanken hatte. Mittlerweile hat die Enttäuschung aber so weit um sich gegriffen, daß der AfD Wechselwähler aus allen Richtungen zuströmen, auch von der SPD, auch von der Linken, sogar von den Grünen. Sie wieder zurückzuholen wäre eine dankbare Aufgabe für alle, die über die Spaltung der Gesellschaft jammern und mit der Wir-Gesellschaft, Angela Merkels windigem Projekt, Ernst machen wollen. Brandmauern halten ja nicht nur die Flammen auf, sie hindern auch an der Flucht vor den Flammen.

Parteimitglieder vergessen gern, daß Wahlen nicht von Mitgliedern, sondern von Wählern entschieden werden. Von denen hat die AfD Millionen, inzwischen auch im Westen. Sie hat jedoch nur 34.000 Mitglieder, nicht einmal halb so viele wie die FDP und kaum ein Drittel dessen, was die Grünen auf die Waage bringen. Aus dieser überschaubaren Menge rekrutieren sich die mehr als 300 Mandatsträger, die für die AfD im Bundestag und in den Landtagen sitzen – ein märchenhaftes Verhältnis, verlockend für alle, die das Mandat als gut bezahlten Job betrachten. Verhängnisvoll jedoch für eine Partei, die angetreten war, es anders zu machen als die anderen. Von diesem Anspruch ist nicht mehr viel übrig. Heute ist auch die AfD eine Interessenvertretung von und für Berufspolitiker – von und für Leute also, die im Parlament Erfahrungen sammeln, die sie im Leben nie gemacht haben.

Netzwerker und Karrieristen, Maulwürfe und Strippenzieher gibt es in sämtlichen Parteien. In ihrer Satzung bekennt sich die AfD zu der Absicht, Landtags- und Bun- destagsmandate nur an Bewerber zu vergeben, die fünf Jahre lang einem mehr oder weniger bürgerlichen Beruf nachgegangen sind. Wollte sie sich an diesen Grundsatz halten, könnte sie wohl die Hälfte ihrer Nachwuchspolitiker nach Hause schicken. Ganze zehn Jahre haben gereicht, um die AfD in eine Partei zu verwandeln, die es in der Kunst, aus der Politik einen Job zu machen, genauso weit gebracht hat wie die Altparteien. Neue Bewerber drängen nach. Das Bündnis Deutschland etwa, das sich in Bremen neulich auch ganz gut geschlagen hat. Oder die Freien Wähler, die über Bayern aber nicht so bald hinauswachsen dürften, genausowenig wie eine Maaßen-Partei, sollte es sie denn geben, über Thüringen hinauskommen wird. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat es leichter, auch wenn der Name an das Team Todenhöfer erinnert, aus dem nicht viel geworden ist. Alle diese Parteien, Bewegungen oder Vereine sind stolz auf ihr professionelles Vorgehen. Sie beschäftigen Imageberater und Werbegurus, achten auf schicke Kleidung und grelle Beleuchtung, drucken Hochglanzbroschüren und bunte Wahlplakate, verteilen Werbegeschenke wie Kaubonbons und Tintenkulis und vieles mehr. Die Profis, die Politik als Geschäft und das Mandat als Beruf betreiben, wollen an die Macht.

Am Wahltag bitten uns diese Profis um unser Vertrauen. Wir sollen es ihnen gewähren, ihnen aussprechen, am liebsten schenken. Doch warum sollten wir das tun? Haben sie uns nicht jahrelang erzählt, daß es unmöglich sei, die Grenzen zu schützen. Daß es an sicheren Herkunftsländern fehle. Daß Obergrenzen nicht in Frage kämen. Daß es unmenschlich wäre, Straftäter abzuschieben. Daß die große, die europäische Lösung wünschenswert, aber nicht erreichbar sei, und so weiter. Jetzt wird uns Punkt für Punkt das Gegenteil verkündet: Grenzkontrollen sind möglich, Abschiebungen geboten, Obergrenzen denkbar, sichere Herkunftsländer vorhanden, die europäische Lösung nahe, greifbar und so weiter. All das gewollt, vorangetrieben und durchgesetzt von Frau Faeser. Doch warum sollten wir ihr glauben?

Daß Politik die Kunst des Möglichen ist, haben wir gelernt. Daß diese Möglichkeiten wechseln, wissen wir. Daß Windungen und Wendungen dazugehören, sehen wir ein. Wenn man es mit dem Hakenschlagen aber übertreibt und jeden Tag eine neue Losung ausgibt, werden wir mißtrauisch, am Ende bockig. Legitime Herrschaft ist auf Zustimmung angewiesen, Zustimmung setzt Glaubwürdigkeit voraus, und Glaubwürdigkeit ist ein flüchtiges Gebilde, leicht zu verlieren, schwer wieder einzufangen. Glaubwürdig, so der bekannte Lehrsatz, ist man immer oder nie.

Die Tagespolitik hat nicht begriffen, daß sich Flüchtlingskrisen, Wirtschaftskrisen, Klimakrise etc. zu einer Vertrauenskrise verknotet haben. Alle staatlichen Instanzen, vom Parlament über die Regierung bis hin zum Bundesverfassungsgericht, haben an Glaubwürdigkeit verloren. Solange die Machthaber sich weigern, Verantwortung für das zu übernehmen, was sie angerichtet haben, wird das so bleiben. Was fehlt, ist die Bilanz. Friedrich Merz hat einen Anfang gemacht, als er von dem sprach, „was wir in den letzten Jahren bei der Flüchtlingspolitik alles falsch gemacht haben“. Wir, das geht an alle, auch die CDU. Sie muß sich bewegen. Wenn nicht, werden es die Wähler bewegen – weg von ihr. Das Weitermachen, „egal, was die Wähler dazu sagen“, sollte sie Annelena Baerbock und den Grünen überlassen. Söder hat recht, wenn er die Grünen zum Hauptfeind der Union ausruft. Nicht etwa, weil das, was sie verkünden und versprechen, abwegig wäre, sondern weil sie Doktrinäre sind und diese in der Politik nichts taugen. Daß Robert Habeck als Beispiel für seine Empfehlung, mit der Arbeit einfach aufzuhören, ausgerechnet den Bäckermeister wählte, war ja nicht böse gemeint, es war nur typisch. Wahrscheinlich wußte er nicht, wovon er sprach. Mich hat seine Empfehlung an Marie-Antoinette erinnert, die unglückliche Königin von Frankreich, die, beim Schäferspiel im Schloßpark von Versailles von der Nachricht überrascht, daß in Paris das Volk nach Brot schrie, gefragt haben soll, warum es denn keinen Kuchen äße. Keine andere Partei hat sich von der sozialen Wirklichkeit, definiert als das, was weh tut, so weit entfernt wie die Grünen.

Keine andere ist denn auch so schnell wie sie dazu bereit,  Zustimmung durch den Befehl zu ersetzen. Davon haben die Wähler genug oder, wie Merz sich ausdrückt, die Nase voll. Sie wollen wählen, und das heißt: abwählen. Sie müssen sich dafür nicht entschuldigen, denn strafbar ist das nicht. Sich auf mildernde Umstände herausreden müssen sie auch nicht, denn für die Abwahl gibt es tausend gute Gründe. Weitere zwei Jahre unter einer dilettantischen Regierung kann sich das Land nicht leisten.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefkorrespondent der Welt. Adam beteiligte sich 2013 an der Gründung der Alternative für Deutschland (AfD) und war bis 2015 einer ihrer Bundessprecher.