© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/23 / 10. November 2023

Widersprüchliche Prognosen für die künftigen globalen Fördermengen
Erdöl im Kaffeesatz
Thomas Kirchner

Die Ölnachfrage soll schon vor 2030 ihren aktuellen Höchststand unterschreiten und auf 92,5 Millionen Barrel pro Tag fallen, so die neueste Prognose der Internationalen Energieagentur (IEA). Für 2050 sagt sie einen Rückgang auf täglich nur noch 54,8 Faß voraus. Mit ihren Vorhersagen lag die IEA schon öfters zu niedrig. Das Vor-Corona-Jahr 2019 sollte mit 99,7 Millionen Barrel Tagesnachfrage das Allzeithoch gewesen sein. Doch derzeit sind es 100,9 Millionen, entsprechend paßt die IEA ihre Prognose an. Der Trend ihrer Vorhersage bleibt, lediglich die aktuellen Daten werden angepaßt.

Ähnlich rennt die OPEC der aktuellen Lage mit ihren Modellen hinterher, die ebenfalls jeweils an die Realität angepaßt werden. Allerdings ist der von der OPEC vorhergesagte Trend ein ganz anderer: Auf 110,2 Millionen Barrel pro Tag soll der Verbrauch bis 2028 steigen, sogar auf 116 Millionen bis 2045. Einen anderen Ansatz nimmt die US-Energiebehörde EIA: Statt einer präzisen Zahl sagt sie Szenarien voraus. Sie sieht die US-Förderung im Jahr 2050 maximal um fast die Hälfte höher als heute, minimal um ein Viertel niedriger. Methodisch ist das seriöser. Was also tun angesichts solch widersprüchlicher Prognosen, wenn man einen Ölkonzern leitet? Abwarten und Tee trinken, statt die Zukunft im Kaffeesatz zu lesen, scheint das Motto zu sein. BP und Shell verzichten auf geplante Produktionskürzungen, die US-Konzerne Chevron und Exxon setzen mit den Milliardenkäufen der Ölförderer Pioneer und Hess auf Wachstum.

Diese Schlagzeilen vermitteln den Eindruck, daß Ölkonzerne massiv expandieren, doch das ist nicht ganz richtig. 545 Millionen Dollar wollen die 140 größten Energiekonzerne in diesem Jahr in Öl und Gas investieren, hat JP Morgan errechnet. Das klingt nach viel, ist aber gerade ausreichend, um die Produktion auf dem aktuellen Niveau zu halten. Für eine starke Ausweitung der Kapazitäten reicht das nicht. Es ist ein Anstieg gegenüber 497 Millionen im Vorjahr, ein Teil dessen aber auf durch Inflation gestiegenen Kosten beruht. Diese Summe liegt aber immer noch 22 Prozent unter dem vorherigen Höchststand von 2014. Trotz niedriger Investitionen liegt die Fördermenge heute aber deutlich höher. Es bedeutet, daß die Branche ihr Ziel verbesserter Effizienz erreicht hat: höhere Förderung bei Einsatz von weniger Ressourcen. Auch die deutlich höheren Gewinne sind auf diese Verbesserungen zurückzuführen, denn der Ölpreise liegt in diesem Jahr sogar noch niedriger als vor 2014.

Für kürzere Zeiträume ist die Nachfrage nicht unbedingt besser vorhersagbar. Im Augenblick schwebt das Gespenst einer weltweiten Rezession über den Rohstoffmärkten. Chinas Nachfrage enttäuscht nach dem Ende der Lockdowns. Rußlands und Saudi-Arabiens Produktionskürzungen, gerade bis Jahresende verlängert, konnten den Angebotsschub von Iran, Guyana, Brasilien, Argentinien und dem US-Fracking zwar neutralisieren, aber einen Rückgang des Ölpreises in Richtung 80 Dollar, die Schmerzgrenze der Saudis, nicht verhindern. Eine Verlängerung der Kürzungen ins Jahr 2024 könnte einen weiteren Rückgang anhalten, ist aber fraglich, weil die Einnahmeverluste jetzt schon den saudischen Haushalt belasten. Sollten Sanktionen gegen den Iran, mit drei Millionen Barrel pro Tag der drittgrößte OPEC-Produzent, im Rahmen des Nahostkonflikts verschärft werden, dürfte der Ölpreis wieder Richtung 100 tendieren.