© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/23 / 03. November 2023

Am Sturmgeschütz
Vor 100 Jahren wurde Rudolf Augstein, Begründer und Herausgeber des „Spiegels“, geboren
Erik Lommatzsch

Ein „Scheißblatt“ sei der Spiegel. Das Zitat stammt nicht etwa von einem CDU-Granden wie Helmut Kohl, der dem Magazin in herzlicher Abneigung, durch demonstrativ betonte Nicht-Leserschaft sowie Interviewverweigerung verbunden war, sondern von Willy Brandt. Dem SPD-Kanzler behagte es gar nicht, daß der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein, der als Unterstützer der sozialliberalen Ostpolitik auftrat, sich nun anschickte, publizistisch heftig an seinem Stuhl zu sägen. So legte Augstein dem als Regierungschef sichtlich immer schwächer agierenden Brandt im Dezember 1973 in einer Kolumne nahe, gesichtswahrend im Folgejahr das Amt des Bundespräsidenten anzustreben. Der Titel der entsprechenden Ausgabe zeigte den Kopf Brandts als ein von Rissen gezeichnetes Denkmal, überschrieben mit den Worten „Kanzler in der Krise“.

Die pathetische Formulierung, der von Rudolf Augstein begründete Spiegel sei sein Leben gewesen, wird in der Sache niemand bestreiten. Geboren am 5. November 1923 in Hannover, wuchs der sich später zum vehementen Kirchenkritiker entwickelnde Augstein in einem streng katholischen Elternhaus auf. Ein hervorragender Schüler war er,  nach einem Volontariat diente er im Krieg bei einer Artillerieeinheit in der Ukraine, zuletzt war er Leutnant. Nach der Rückkehr nach Hannover wurde er im Oktober 1946 Deutschland-Ressort-Chef des von den britischen Besatzern initiierten Magazins Diese Woche. Augstein profilierte sich hier schnell. Insbesondere seine Kritik an – allen – Besatzungsmächten stieß den Briten bitter auf. Man trennte sich von dem durch die Leser gut aufgenommenen Blatt aber nicht, indem man es einstellte, sondern die Lizenz dem 23jährigen Augstein übertrug, zunächst noch mit zwei weiteren Lizenzträgern. Die Gründe und Zusammenhänge dieses etwas schwer verständlichen Vorgangs bleiben rätselhaft. Am 4. Januar 1947 erschien das Heft erstmals unter dem nunmehrigen Titel Der Spiegel. 1952 erfolgte der Umzug nach Hamburg.

Viele konnten seine Bewunderung für Bismarck nicht nachvollziehen

Augstein baute mit dem Spiegel ein Nachrichten- und Meinungsmagazin auf, das in der Bundesrepublik über erheblichen Einfluß verfügte und in der Lage war, politische Entscheidungsträger vor sich herzutreiben. Sein Produkt feierte er als „Sturmgeschütz der Demokratie“, die martialische Formulierung wurde im eigenen Haus und bei Beifallswilligen gern und oft aufgegriffen. Adenauer machte er publizistisch das Leben schwer. Einen frühen Höhepunkt stellte der Artikel „Am Telefon vorsichtig“ vom Juli 1952 dar, Bestandteil eines wesentlich umfangreicheren Komplexes, der als „Schmeisser-Affäre“ bekannt wurde. Einer der engsten Vertrauten Adenauers, Herbert Blankenhorn, und der Kanzler selbst wurden darin massiv belastet. Es hieß, man habe in den Jahren vor Gründung der Bundesrepublik dem französischen Geheimdienst bereitwillig Informationen zur Verfügung gestellt. Von der französischen Seite habe man sich unter anderem finanzielle Unterstützung des CDU-Wahlkampfes für die erste Bundestagswahl versprochen. Derartiges wirkte äußerst nachteilig auf die von Adenauer forcierte Westbindungspolitik, er setzte eine Beschlagnahme der Ausgabe durch. Mit Mühe gelang es der CDU, die Wogen zu glätten. Zu Adenauers Teegesprächen – Audienzen für regierungsgenehme Journalisten – waren Spiegel-Vertreter nicht geladen. 1953 war es wiederum dieses Magazin, das die Pläne des Kanzleramtschefs Otto Lenz offenlegte, ein „Informationsministerium“ zu errichten, das schnell und sicher nicht zu Unrecht im Verdacht stand, es solle als eine Art Propagandaministerium fungieren. Adenauer, der das Ganze unterstützt hatte, ließ Lenz fallen.

Aus der Spiegel-Affäre von 1962 gingen das immer auflagenstärkere Magazin und insbesondere sein Herausgeber Augstein als Sieger hervor. Der im Oktober veröffentlichte Beitrag „Bedingt abwehrbereit“ mit der Analyse einer Nato-Stabsübung und Zweifeln an der Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik führte zu Durchsuchungen und Besetzungen von Redaktionsräumen und Verhaftungen von Journalisten. Augstein selbst verbrachte über drei Monate im Gefängnis. „Landesverrat“ lautete der Vorwurf, Adenauer sprach im Bundestag von einem „Abgrund“. Die Öffentlichkeit nahm regen Anteil, es kam zu Protesten. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos. Verteidigungsminister Strauß, ebenfalls ein Lieblingsfeind des Spiegel, der das drastische Vorgehen gegen die Presse vorangetrieben hatte, mußte sein Amt zur Verfügung stellen. Der Kanzler, dem die eigentliche Verantwortung zukam, konnte sich zwar halten, die „Spiegel-Affäre“ beschleunigte jedoch das zu dieser Zeit ohnehin absehbare Ende seiner Ära. Zur Vielzahl der politischen Beben, die der Spiegel durch seine Veröffentlichungen auslöste, zählte auch die mit dem Namen Flick verbundene Parteispendenaffäre in den achtziger Jahren.

Augstein hatte ab Herbst 1972 kurzzeitig ein FDP-Bundestagsmandat wahrgenommen. In der Redaktion gab er sich patriarchalisch, beugte sich allerdings 1974 der Forderung nach mehr Mitbestimmung und übertrug den Mitarbeitern 50 Prozent der Gesellschafteranteile. Als Patriot verstand er sich stets, was nicht zuletzt in seiner für viele nicht nachvollziehbaren Bewunderung für den Realpolitiker Bismarck zum Ausdruck kam. Auch andere Ansichten wollten nicht in die selbst-auferlegte Positionierung „Im Zweifelsfall links“ passen. So etwa verübelte Augstein Hans Filbinger nicht dessen Wirken als Marinerichter in der Wehrmacht, sondern daß er sich im nachhinein als Widerstandskämpfer geriert und nicht voll zu seiner „Tätigkeit während des Krieges“ gestanden habe. Vehement wandte sich Augstein gegen seinen eigenen Chefredakteur Erich Böhme, der noch wenige Tage vor dem Mauerfall von 1989 geschrieben hatte „Ich möchte nicht wiedervereinigt werden“. Im Sommer 1990 bekundete Augstein Respekt gegenüber dem ungeliebten CDU-Regierungschef und dessen zur deutschen Einheit führenden Politik: „Den Staatsmann Kohl wird man nicht mehr von der Landkarte tilgen können. Glückwunsch, Kanzler!“

Nach und nach zurückgezogen, sich aber fast bis zuletzt kommentierend zu Wort meldend, blieb Augstein bis zu seinem Tod am 7. November 2002 der Herausgeber des Spiegel. Mit dem von ihm ausgegebenen, ohnehin etwas vollmundigen Objektivitätsanspruch „Sagen, was ist“ sind seine Nachfolger immer weniger gut gefahren; der 2018 aufgekommene Skandal um die zum großen Teil frei erfundenen Artikel von Claas Relotius bildet hier einen traurigen Tiefpunkt.

Über den Stil des Magazins urteilte der ehemalige Mitarbeiter und spätere ARD-Redakteur Peter Merseburger, der Spiegel trete mit einer „gängigen Mischung aus Ironie, Angriffslust und seinen oft als Fakten getarnten, meist negativen Interpretationen“ auf. Anläßlich des 100. Geburtstages widmete das eigene Haus seinem Gründer eine biographische Spiegel-Serie, die, bis auf die Ironie, dieser Charakterisierung mustergültig entspricht. Das Verhältnis des jungen Augstein zum Nationalsozialismus sei zwar „kritisch, aber nicht durchgehend negativ“ gewesen. Als Belege dienen etwa frühe Publikationen, gegen die es zwar an sich nichts einzuwenden gebe, die aber „eben in einem Naziblatt erschienen“ seien, ein Schulaufsatz, der insgesamt eher als gewagt zu bezeichnen ist und der auch schon damals nicht gut ankam oder Vermutungen darüber, was Augstein an der Ostfront über Deportation und Mord an der jüdischen Bevölkerung erfahren haben könnte. Sichtlich karikierende Feldpost-Äußerungen über den „Führer“ werden eingeräumt, höher bewertet jedoch wird NS-Vokabular eines jungen Wehrmachtssoldaten, das niemanden überrascht, der mit der Epoche einigermaßen vertraut ist. Für einen sichtlich angestrebten Sockelsturz des offenbar postum lästigen Gründervaters ist das alles etwas arg dünn.