© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/23 / 06. Oktober 2023

Vom Anvisieren bis auf den Teller
Ernährung: „Jägetarier“ essen nur, was Wald und Wiesen ihnen bieten
Bernd Rademacher

Rund vierhunderttausend Jäger gibt es in Deutschland, das sind gut 25 Prozent mehr als noch im Jahr 2000. Der Trend zeigt steil nach oben. Der Frauenanteil hat die Zehn-Prozent-Marke gerissen, in den Kursen der Jagdschulen beträgt er inzwischen fast ein Viertel. Unter den genannten Motiven, das „Grüne Abitur“ abzulegen, steht neben dem aktiven Artenschutz inzwischen die Ablehnung von Fleisch aus Massentierhaltung ganz oben. Nur noch Fleisch essen, das man selbst erlegt hat und ansonsten auf Fleisch verzichten: das wollen die „Jägetarier“ – ein neuer Trend nah an der radikalen Paläo-Ernährung, die sich beim Nahrungsangebot an der Steinzeit orientiert; nur halt ohne Speere. Jagdrevier statt Fleischtheke, Braten nur noch als Ausnahme-Luxusgut, abhängig von Jagdglück und Schonzeiten – und ansonsten eben Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte und Pilze; gern aus eigenem Anbau, eben das, was Garten und Wald sonst noch so zu bieten haben. Kann das wirklich funktionieren? 

Die Idee kommt jedenfalls vielen Verbrauchern mit ethischem Magengrummeln entgegen: Das Bewußtsein für transparente heimische Herkunft, Vermeidung von Tierleid und Bio-Qualität verdirbt Konsumenten zunehmend den Appetit auf Discounter-Fleischwaren. Dazu muß man kein linkswoker Weltverbesserer sein.

Kein Wunder, daß Wildfleisch boomt. „Mehr Bio als Wild geht nicht“, sagen Jäger. Außerdem ist die Herkunftsgeschichte des Fleischstücks vom Wald bis auf den Teller dokumentiert. Selbst bei nicht eigenhändig erlegtem Wildbret: Über QR-Codes auf Wildfleisch-Verpackungen lassen sich Daten wie Alter, Geschlecht, Erlegungsort, Erlegungsdatum des Ursprungstieres nachvollziehen.

Der Tisch im Revier ist reich gedeckt: Es schmecken nicht nur Hirsch, Wildschwein und Reh, sondern auch Hase, Fasan, Ente, Wildtaube oder Kaninchen. Sogar Kormoran oder Neozoen wie Nutria (Sumpfbiber) sind genießbar. Wer sich vor Sonnenaufgang aus dem Bett quält, meist mehrmals bei nicht selten widrigem Wetter stundenlang vergeblich ansitzt, bis er Beute macht, hat eine höhere Wertschätzung für das, was am Ende auf dem Teller liegt. Ebenso, wer sein erlegtes Stück Wild selbst mit Blut an den Händen geborgen, ausgeweidet („aufgebrochen“) und zerlegt hat.

Mehr Bio als Wild geht nicht

Verwertet wird „nose to tail“, von der Nase bis zum Schwanz, alles: Man bekommt nicht nur Filets, sondern muß auch Schulter, Nacken, Leber, Zunge und Rippen verarbeiten. Daraus lassen sich immerhin noch Gulasch, Hackfleisch, Wurst und Fond gewinnen. Diese Erlebnisse führen den von der „Fleischproduktion“ entkoppelten Konsumenten wieder mit dem ursprünglichen Prozeß der Fleischgewinnung zusammen.

Tip: Fragen Sie jagende Bekannte, ob sie Ihnen eine Reh-Leber überlassen. Dann kochen Sie 250 Gramm Bauchspeck mit Wildgewürzen und etwas Portwein für eine Stunde. Die letzten zehn Minuten geben Sie die gewürfelte Rehleber hinzu. Dann alles pürieren und abschmecken, zuletzt im Wasserbad nochmals erhitzen. Fertig ist die Leberwurst – ein Produkt, bei dem man sonst nie so recht weiß, was wohl alles drin ist.

So macht es auch der niederösterreichische Spitzenkoch und Jäger Peter Zinter, der sich selbstbewußt öffentlich als Jägetarier bezeichnet. Er sagt, ein Rindersteak sei für ihn nie die Königsklasse gewesen, da Wildfleisch das Beste sei, was die Natur zu bieten habe. Er halte auch nichts davon, nur die Edelteile wie Filets zu verwerten, da das gesamte Wildtier ein Edelteil sei. Seinem ersten Gamsbock hat er achtmal erfolglos nachgestellt und dabei jedesmal drei Stunden strapaziösen Aufstieg in Kauf genommen.

Katja Meyer aus Dülmen in Westfalen betreibt die Netzseite jaegetarischleben.de und war eigentlich jahrelang Vegetarierin, seit sie in großen Schweine- und Bullenmastbetrieben arbeitete. Dann wurde sie von der Jagdgegnerin zur Jägerin. Die einzige Ausnahme von ihrer vegetarischen Ernährung heute: Wildbret aus heimischer Jagd.

Auf ihrem Blog schreibt sie: Jägetarisch leben sei „für viele Menschen auch ein Weg, über den eigenen Konsum, die Wertigkeit und Herkunft des Fleisches mehr nachzudenken (…) und somit einen Beitrag für unsere Umwelt zu leisten, damit wir von der schrecklichen Massentierhaltung Abstand nehmen können“.