© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/23 / 29. September 2023

Das Vakuum wird gefüllt
Ukraine und Rußland: Der Krieg erschöpft zusehends beide Seiten. Gerade das könnte die Intensität erhöhen
Michael WIesberg

Die Ausbeute der jüngsten Reise des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in die USA und nach Kanada kann sich sehen lassen. Washington zeigte sich großzügig und genehmigte ein weiteres Militärhilfspaket in Höhe von 325 Millionen Dollar, Ottawa versprach umgerechnet sogar mehr als 450 Millionen Euro Militärhilfe. Unklar ist die Nachrichtenlage, was die Lieferung ballistischer ATACMS-Kurzstreckenraketen durch die USA angeht. Eine offizielle Bestätigung seitens der US-Regierung steht aus; allerdings gibt es auch kein Dementi.

Kommt es tatsächlich zur Lieferung dieser Raketen an die Ukraine, gerät auch Deutschland unter Druck, Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Der „Game changer“ im Abnutzungskrieg mit Rußland, den sich Selenskyj offenbar erhofft, werden diese Raketen aber wohl nicht sein. Experten sind der Ansicht, daß damit zwar der Nachschub gestört werden kann, aber keine grundlegende Lageänderung eintritt. Was deren mögliche Lieferung aber bewirken dürfte, ist ein verstärkter Druck der Falken um den russischen Präsidenten Wladimir Putin, endlich eine unmißverständliche Antwort in Richtung USA zu erteilen. Das wird auch in Washington befürchtet; so erklärte der Ex-CIA-Analyst George Beebe im Online-Magazin Responsible Statecraft, es bestehe die Gefahr, daß „Putin in dem Maße, in dem sich Washington sicher sein kann, daß es keine russischen Vergeltungsmaßnahmen zu befürchten“ habe, „zunehmend unter Druck gerät, dem Westen gegenüber rote Linien durchzusetzen“.

Diese rote Linie sah Moskau schon einige Male überschritten, sei es bei der Lieferung von Himars-Raketenwerfern, von M1-Abrams-Panzern oder F16-Kampfflugzeugen, die mit Erlaubnis der USA von Dänemark und den Niederlanden überstellt werden, sobald die Ausbildung der ukrainischen Piloten in den Vereinigten Staaten beendet ist. Sollten diese Waffenlieferungen in dieser Phase des Abnutzungskrieges, in der beide Seiten alle Kräfte mobilisieren, seitens Kiew in militärische Erfolge umgemünzt werden können, ist eine weitere Eskalation des Konflikts nicht auszuschließen. Konkret bedeutet das: Wenn die ukrainische Gegenoffensive zu großen Geländegewinnen führt, kann nicht ausgeschlossen werden, daß Putin sich um seiner eigenen Glaubwürdigkeit willen gezwungen sehen könnte, taktische Atomwaffen einzusetzen.

Ob die Ukraine in der Lage ist, eine derartige Kriegswende zu erzwingen, muß aber bezweifelt werden. Die Tatsache, daß Kiew versucht, in afrikanischen Staaten Soldaten zu rekrutieren, wie das Online-Magazin Telepolis berichtet, spricht dafür, daß es der Ukraine zunehmend schwerfällt, die Verluste an Menschen und Material zu kompensieren. Auch von der russischen Seite werden derartige Anwerbeversuche, konkret in Kuba, berichtet. Auch das läßt darauf schließen, daß der Krieg für beide Seiten in die entscheidende Phase getreten ist. 

Dafür spricht auch die Heftigkeit, mit der Kiew auf den Einfuhr- und Transitstopp für ukrainisches Getreide und Dutzende weitere landwirtschaftliche Produkte reagiert hat, den Polen, Ungarn und die Slowakei zum Schutz ihrer Landwirtschaft verhängten. Aufgrund der russischen Seeblockade für Getreide-Schiffe ist die Ukraine auf die polnischen Ostseehäfen angewiesen, um ihr Getreide nach Afrika und Asien zu exportieren. Diese Einnahmen sind für Kiew von existentieller Bedeutung; ohne sie droht die Staatspleite. Warschau und Kiew zeigten sich in den letzten Tagen bemüht, diesen Streitpunkt zu entschärfen. Ob und in welcher Form hier ein Modus vivendi verhandelt werden kann, bleibt abzuwarten.

Die angespannte Lage im Ukraine-Krieg, die Moskaus ganze Aufmerksamkeit erfordert, hat zur Folge, daß Rußlands Einfluß als Ordnungsfaktor in anderen Regionen schwindet. Das kann aktuell in der international nicht anerkannten Republik Arzach (bis 2017 Bergkarabach) beobachtet werden, die überwiegend von Armeniern bewohnt wird. Aserbaidschan hat die jahrzehntelange Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit dieser armenischen Enklave militärisch entschieden. Den dort lebenden christlichen Armeniern bleiben zwei Optionen: entweder fliehen oder sich langsam entrechten zu lassen und ihre kulturelle und ethnische Identität zu verlieren. Rußland, eigentlich so etwas wie ein Protektor armenischer Interessen in dieser Region, hat seine schützende Hand aus einer Reihe von Gründen gelockert. Der österreichische Journalist Andreas Unterberger merkte völlig richtig an, daß Moskau „jedes Interesse“ habe, daß „die Gas- und Ölvorräte Aserbaidschans nicht zur direkten Konkurrenz für Rußland werden“, sondern daß „auf den Märkten kooperativ vorgegangen wird“. Armenien hat dieses stillschweigende Arrangement Moskaus mit Baku zum Anlaß genommen, sich ostentativ Washington zuzuwenden; es wurde sogar ein gemeinsames Manöver mit US-Truppen abgehalten. Diese Art Schaukelpolitik des armenischen Premierministers Nikol Paschinjan indes, mit der Moskau wohl provoziert werden sollte, in Arzach zugunsten der dort lebenden Armenier einzugreifen, kam im Kreml nicht gut an. Aber auch die USA zeigen keinerlei Anstalten, direkt dort einzugreifen. Damit wird das Machtvakuum, das Rußland im Kaukasus hinterläßt, durch die Türkei, Aserbaidschan und auch den Iran gefüllt, das seine Kooperation mit Moskau zunehmend dazu nutzt, internationale Sanktionen zu unterlaufen.

Den USA kann nicht daran gelegen sein, wegen der Bergkarabachfrage in eine Konfrontation mit Regionalmächten wie der Türkei oder Aserbaidschan verwickelt zu werden. Mehr denn je gilt die noch von der Regierung Obama ausgegebene Direktive „Ausrichtung nach Asien“. Diese Ausrichtung hat mit den unverhohlenen Bestrebungen Pekings, Taiwan mit dem chinesischen Festland „wiederzuvereinigen“, und zwar gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln, neue Relevanz bekommen. Mit der Taiwanfrage ist nämlich auch die global stark verflochtene Chipindustrie in den Blickpunkt geraten, die in Taiwan eines ihrer wichtigsten Zentren hat.

Im geopolitischen Konflikt zwischen China und den USA hat die Chipherstellung eine nicht zu überschätzende Bedeutung. Zwar wird derzeit in den USA und Europa versucht, eine eigene Chipherstellung aufzubauen, um die Abhängigkeit von Ostasien zu lockern. Diese Initiative ist kostspielig und dürfte etliche Jahre benötigen, soll ein technisches Know-how wie zum Beispiel das des weltgrößten taiwanesischen Chipherstellers TSMC erreicht werden. Eine Besetzung Taiwans durch China wäre deshalb für die Weltwirtschaft eine Katastrophe.