© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/23 / 22. September 2023

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Vor Ort, aber nicht vollständig
Paul Rosen

Reisen von Abgeordneten sind eigentlich nichts Besonderes. Ausgestattet mit einer „Bahn-Card 100“ für die erste Klasse und der Berechtigung, Flugtickets im Inland auf Kosten der Steuerzahler bestellen zu können, sind sie regelmäßig auf Bahnhöfen und auf Flughäfen anzutreffen. Im Ausland sieht man sie zumeist grüppchenweise auf sogenannten Delegationsreisen. Zuletzt wurden Mitglieder des Bildungsausschusses in der für ihre guten Einkaufsmöglichkeiten bekannten Stadt New York gesichtet. Offizieller Anlaß waren Gespräche über die Entwicklung der Medizin-Informatik.

Daß Abgeordnete mehrerer Fraktionen gemeinsam im Inland unterwegs sind, ist selten der Fall, und daß gar das Bundestagspräsidium gemeinsam auf Reisen geht, gab es bisher noch nie. Bekannt wurde das neue Reiseformat „Präsidium vor Ort“ durch eine Panne: Als Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) sowie ihre Vizepräsidentinnen Yvonne Magwas (CDU), Aydan Özoguz (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Petra Pau (Linke) nach Schleswig-Holstein zu Besuch bei ihrem Präsidiumskollegen Wolfgang Kubicki (FDP) waren, streikte bei der Präsidiums-Lustfahrt auf Kubickis Yacht der Motor. Die das Boot begleitende Wasserschutzpolizei mußte die Politiker an Land bringen.

„Hin zu den Menschen“ laute das Motto des neuen Formats, ließ Vizepräsidentin Magwas mitteilen. Das Präsidium wolle gemeinsam quer durch Deutschland reisen und damit den Bundestag zu den Menschen bringen. Zunächst wollen die Präsidiumsmitglieder ihre jeweiligen Heimatwahlkreise aufsuchen, zum Beispiel bei Magwas das Vogtland, bei Bas die Ruhrgebietsstadt Duisburg, bei Özogus Hamburg, bei Göring-Eckardt Gotha und bei Pau Berlin-Hohenschönhausen.

In Schleswig-Holstein bei Kubicki sah das Programm so aus, daß sich das Bundestagspräsidium mit den Präsidiumskollegen des schleswig-holsteinischen Landtags und zu einem Abendessen mit Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) traf. Man machte der Besatzung des Segelschulschiffes „Gorch Fock“ die Aufwartung, sprach mit Schülern einer ausgewählten Schule sowie mit Vertretern von Vereinen und Wirtschaftsverbänden. „Wir haben uns gut ausgetauscht, denn Demokratie wurzelt in den Anliegen der Menschen vor Ort“, lobte Bas die neue Veranstaltung. Außerdem hieß es von ihr: „Unser Parlament ist für alle Menschen da und fühlt sich ihnen verpflichtet“.

Wer im hohen Norden nicht Funktionär einer Öko-Gruppe oder eines Wirtschaftsverbands ist, hatte jedoch keine Chance, mit der Parlamentsspitze in Kontakt zu treten. Die Gesprächsteilnehmer waren sorgfältig ausgewählt. Daher wirken Äußerungen von Bas, man müsse „auf die Menschen zugehen, sie ernst nehmen, einbeziehen und für unsere Demokratie gewinnen“ befremdlich. Und ihre Aussage, „der Deutsche Bundestag ist da und hört zu“, ist schlicht falsch. Zum Bundestag gehört auch die AfD. Sie ist entgegen der Geschäftsordnung nicht im Präsidium vertreten, und somit auch beim „Präsidium vor Ort“ ausgeschlossen.