© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/23 / 15. September 2023

Neutralität in Glaubensfragen
Bundesverfassungsgericht urteilt 2003 zum Kopftuchverbot
Holger Wartz

Am 24. September 2003 stoppte das Bundesverfassungsgericht den juristischen Feldzug der Lehrerin Fereshta Ludin, die im Schuldienst des Landes Baden-Württemberg unbedingt ihr muslimisches Kopftuch tragen wollte. Dieses Ansinnen hatten zuvor bereits das Verwaltungsgericht Stuttgart, der Verwaltungsgerichtshof von Baden-Württemberg und das Bundesverwaltungsgericht unter Verweis auf die Pflicht jedes Beamten zur Neutralität in Glaubensfragen während der Dienstausübung zurückgewiesen. Die vier Klagen der gebürtigen Afghanin und Botschaftertochter, welche durch ihre Heirat mit dem Konvertiten Raimund Prochaska die deutsche Staatsangehörigkeit erlangte, waren vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt worden, obwohl es Ludin offensichtlich nicht nur um „Gleichstellung“ ging.

Länder sollen zulässiges Maß religiöser Bezüge bestimmen

Das Bundesverfassungsgericht traf eine abschließende Entscheidung über die Urteile der Vorinstanzen, welche relativ ausweichenden Charakter hatte: „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist nicht im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.“ Insofern sei „ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen … mit der Verfassung nicht vereinbar.“ Allerdings stehe es den demokratisch legitimierten Landesgesetzgebern frei, „im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben das zulässige Maß religiöser Bezüge in der Schule neu zu bestimmen“ und in diesem Zusammenhang dann doch auch „durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden.“ Im Klartext: Wenn die Länderparlamente ein etwas spezifischer formuliertes Kopftuchverbot erlassen, wäre das verfassungskonform, die versagte Einstellung Ludins im Schuldienst des Landes Baden-Württemberg, weil sie beim Unterricht aus Glaubensgründen nicht auf das Tragen eines Kopftuchs verzichten wollte, rechtens.

Von dieser Möglichkeit machten nachfolgend nicht nur Baden-Württemberg, sondern auch sieben weitere Bundesländer Gebrauch. Allerdings revidierte das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung am 27. Januar 2015 selbst wieder. Nun hieß es in Reaktion auf die Klage zweier Lehrerinnen aus Nordrhein-Westfalen, daß gesetzliche Verbote „religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen mit deren Glaubens- und Bekenntnisfreiheit … nicht vereinbar“ seien. Kopftuchverbote dürften nur beim Vorliegen „einer hinreichend konkreten Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität verhängt werden“. Seither gehört das islamische Symbol in vielen deutschen Schulen zum Alltag.